Wws-T1: Abwehr im Dienste der Bindung: Idealisieren und Schönreden Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten

Abwehr im Dienste der Bindung: Idealisieren und Schönreden

Wenn das Verhalten einer wichtigen Bindungsperson eine starke Inkonsistenz in uns erzeugt oder erzeugen könnte, die eigentlich mit dem Wunsch im Widerspruch steht, die Beziehung zu dieser Person aufrechtzuerhalten, dann liegt es nahe, die Wirklichkeit ein wenig zu idealisieren, um die Inkonsistenz zu reduzieren. Wenn ich Inkonsistenz erlebe, dann sind in meinem Bewusstsein (Arbeitsspeicher) mindestens zwei Inhalte vorhanden, die einander widersprechen. Dieser Widerspruch löst eine innere Anspannung (Stress) aus und verhindert die bewusste Entscheidung und Planung einer Handlung. Man ist blockiert und weiß nicht, in welche Richtung man sich bewegen soll. Um diesen Zustand zu beenden, muss ich die sich widersprechenden Informationen umdeuten, verdrängen oder schönreden, bis der innere Konflikt erträglich und ich selbst wieder entscheidungsfähig bin.

Eine Form der Inkonsistenz ist die sogenannte kognitive Dissonanz. Bei der kognitiven Dissonanz stehen Gedanken, die normalerweise eng an das persönliche Wertesystem des Betroffenen gekoppelt sind, im Widerspruch zueinander. (Die zweite Unterform der Inkonsistenz ist die Inkongruenz. Hier besteht eine Kluft zwischen dem, was ich gern hätte, und der äußeren Realität: Ein simples Beispiel: Ich wünschte mir, dass die Sonne scheint, aber es regnet. Siehe dazu auch »Das Konsistenzprinzip«)

Nehmen wir einmal an, Michael verliebt sich in Philipp. Während ihres dritten Dates erfährt Michael, dass Philipp die AfD wählt. Das erzeugt in Michael eine extreme kognitive Dissonanz, weil die AfD massiv gegen Michaels Wertesystem verstößt und er gleichzeitig sehr starke Gefühle für Philipp empfindet. Wie kann Michael mit dieser Situation umgehen? Aus dem Kontakt zurückziehen will er sich nicht, seine Gefühle für Philipp sind bereits zu stark. Wenn er also mit Philipp eine enge Beziehung eingehen möchte, muss er seine kognitive Dissonanz intern regulieren, um die Anspannung und den Stress, die sie in seinem Gehirn erzeugt, abzubauen. Dafür muss er etwas an seinen inneren Einstellungen schrauben, wofür ihm die folgenden Möglichkeiten zur Verfügung stünden:

  1. Er verdrängt die Information, dass Philipp die AfD wählt, möglichst weit aus seinem Bewusstsein.
  2. Er fügt konsonante (zu seiner Einstellung passende) Informationen hinzu, indem er sich beispielsweise sagt: »In einigen Punkten liegt die AfD ja gar nicht so falsch.«
  3. Er reduziert die Wichtigkeit der dissonanten Information, indem er sich beispielsweise einredet: Politik ist nicht so wichtig.
  4. Er erhöht die Wichtigkeit der konsonanten Information, indem er sich klarmacht: Philipp ist mein Traummann.
  5. Er hegt die Hoffnung, dass er Philipps Überzeugungen bezüglich der AfD im Laufe der Beziehung verändern kann.

Allen Lösungen liegt zugrunde, dass Michael ein bisschen an seiner Wirklichkeit »herumbiegen« muss, um die kognitive Dissonanz und somit sein ungutes Gefühl zu reduzieren. Verdrängen und Schönreden sind hier die Abwehrmechanismen der Wahl. Man reduziert die dissonante Information, indem man sie verdrängt, oder man fügt konsonante Informationen hinzu, mit denen man sich die Situation etwas besser darstellt.

Während die Verdrängung ein ganz grundlegender Abwehrmechanismus ist, den wir unbewusst anwenden, um alle möglichen konflikthaften Wahrnehmungen aus unserem Bewusstsein zu rücken, so wenden wir die Idealisierung und das Schönreden insbesondere an, um unsere Beziehungen zu schützen. Wir idealisieren nahestehende Menschen, damit wir uns konfliktfrei an diese binden können. Naturgegeben ist, dass Kinder ihre Eltern idealisieren. Sie müssen dies tun, um sich sicher und geschützt zu fühlen – und das geht nur bei »guten und richtigen« Eltern. Wie ich bereits unter dem Abschnitt »Ein geringer Selbstwert zum Schutz der Elternbindung« erwähnt habe, geben sich kleine Kinder immer selbst die Schuld, wenn ihre Beziehung zu den Eltern oder einem Elternteil schwierig ist. Kinder benötigen vor allem das Gefühl von Sicherheit. Dieses käme ihnen völlig abhanden, wenn sie ihre Eltern als »unfähig« wahrnehmen würden. Davon abgesehen sind kleine Kinder intellektuell nicht in der Lage, sich ein objektives Urteil über die Bindungsfähigkeit und Erziehungskompetenz ihrer Eltern zu bilden.

Diese ungesunde Idealisierung anderer Menschen im Sinne von »Im Zweifelsfall gebe ich mir selbst die Schuld, weil ich dich als besser als mich selbst einschätze« wird von vielen Menschen auch noch im Erwachsenenalter praktiziert.

Es gibt allerdings auch eine gesunde Form von Idealisierung. Diese findet beispielsweise in intakten Beziehungen statt: Man fokussiert auf die Stärken des Partners und blendet seine Schwächen aus (wohl wissend, dass diese existieren). Wenn ich jedoch in eine schwierige oder gar toxische Beziehung verstrickt bin, dann kann mich eine verklärte Wahrnehmung meines Partners in den Abgrund führen. Der toxische Partner wird häufig idealisiert, um die unterschwellige Trennungsangst zu reglementieren.

Würde der Partner nämlich realistisch wahrgenommen, dann käme man nicht mehr um eine Trennung herum. Einige Menschen sind jedoch lieber todunglücklich in einer Partnerschaft als allein. Aber nicht nur in unglücklichen Partnerschaften wird das Gegenüber idealisiert, sondern auch in problematischen Freundschaften oder Arbeitsbeziehungen. Die Idealisierung trägt immer dazu bei, eine Bindung aufrechtzuerhalten beziehungsweise die Beziehungssituation erträglicher zu gestalten. Diese Form von Idealisierung betrifft besonders häufig konfliktscheue Menschen: Sie scheuen nicht nur den Konflikt, sondern nehmen ihn häufig als solchen nicht wahr. Sie deuten ihn oftmals auch um: Der andere hat es nicht so gemeint! und verharmlosen hierdurch eine gegen sie gerichtete Aktion. Manchmal merken sie auch nicht, wenn sie schlecht behandelt werden, oder sie merken es erst einige Zeit später, wenn sie wieder für sich allein sind.

Denn nur, wenn sie allein sind, können sie ihren Anpassungsmodus abstellen und endlich sich selbst spüren. Im Anpassungsmodus verlieren sie den Kontakt zu ihren eigenen Gefühlen, weil sie stark damit beschäftigt sind, sich auf die Bedürfnisse ihres Gegenübers einzustellen. Konfliktscheue wollen Harmonie um jeden Preis, und das hat zur Folge, dass sie sich andere Menschen gern schönreden. Sie projizieren deshalb auch positive Eigenschaften in ein Gegenüber, das dieser Wahrnehmung gar nicht gerecht wird.