Wws-T1: Introjektion und Projektion Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Introjektion und Projektion
Die sogenannte Projektion, auf die ich bereits unter »Unser Selbstbild bestimmt, was wir wahrnehmen« eingegangen bin, zählt zu den Klassikern der psychischen Abwehr. Bei der Projektion sehe ich mein Gegenüber durch die Brille meiner eigenen Bedürfnisse und Gefühle. Wenn ich beispielsweise ein Schattenkind verinnerlicht (introjiziert) habe, das sich chronisch zu kurz gekommen fühlt, dann projiziere ich schnell in andere Menschen, dass sie mich übervorteilen wollen. Oder ich übertrage die Erfahrungen, die ich in meiner Kindheit gemacht habe, auf meine späteren Beziehungspartner.
Nicht selten sieht man unbewusst die eigene Mutter oder den eigenen Vater im anderen. Zwei Beispiele: Einer meiner Klienten hatte eine derart kontrollierende Mutter, dass er sich als Erwachsener schon bei der Frage »Wie war dein Tag, Schatz?« in seiner Selbstbestimmung eingeschränkt fühlte, anstatt sich über das Interesse seiner Frau an seiner Person zu freuen.
Eine Klientin hingegen, die ständig der Liebe ihres gefühlsarmen Vaters hinterhergelaufen war, suchte sich unbewusst ähnliche Männer aus. Sie projizierte ihr Vaterbild in diese Partner, in der (unbewussten) Hoffnung, diesmal ein Happy End herbeiführen zu können.
Ich erinnere an die Abfolge von Reiz → Interpretation → Gefühl → Verhalten, die ich bereits unter dem Abschnitt »Unser Selbstbild bestimmt, was wir wahrnehmen« beschrieben habe. Die Projektion, wie auch andere psychische Wahrnehmungsverzerrungen, bestimmt die Interpretation unserer Wahrnehmung, die – wie ich nicht müde werde zu betonen – wesentlich durch unsere frühen Lernerfahrungen, also von unserer mentalen Landkarte/dem inneren Kind bestimmt ist.
Menschen, die sich nicht auf Augenhöhe mit anderen Menschen wähnen, sondern sich tendenziell unterlegen fühlen, sind anfällig für die Opferrolle. Wie ich bereits unter dem Abschnitt »Geringer Selbstwert und Opferrolle« geschrieben habe, geschieht dies häufig aus einer erlernten Resignation heraus, die ihnen tief in den Knochen sitzt. Daraus resultiert das Problem, dass das potenzielle Opfer in das scheinbar mächtige Gegenüber die Täterrolle projiziert. Aus Angst vor Unterlegenheit und Ablehnung positionieren die betroffenen Menschen sich dann beispielsweise in einer Diskussion nicht deutlich, und wenn dann Entscheidungen getroffen werden, die nicht in ihrem Sinne sind, verübeln sie das den Entscheidungsträgern. Simpel ausgedrückt kann ihre Projektion mit: »Ich klein, du böse!«, zusammengefasst werden. Dieser Projektion ist der vermeintliche Täter hilflos ausgeliefert. Seine »Verbrechen« bleiben auch nicht ungestraft. Das vermeintliche Opfer rächt sich zum Beispiel gern mit passiver Aggression, die sich durch innere wie äußere Beziehungsboykotte ausdrückt: Mauern, den anderen auflaufen lassen, Zusagen machen, die man nicht einhält, oder Mobbing sind Spielarten der passiven Aggression. Der vermeintliche Täter steht auf verlorenem Posten, weil das scheinbare Opfer jede seiner Handlungen und Aussagen durch den Filter seiner Projektion wahrnimmt. Das ist auch ein Grund, warum viele Gewaltverbrecher sich selbst als Opfer wahrnehmen. Wenn jemand aufgrund seiner Kindheitserfahrungen ein feindseliges Menschenbild entwickelt hat und zudem keine Empathie empfinden kann, so mag er sich als Opfer wähnen, das sich »nur das nimmt, was ihm das Leben bisher vorenthalten hat«.
In ihrer Kindheit waren die Betroffenen häufig tatsächlich die Opfer ihrer wenig einfühlsamen Eltern. Durch die Macht und Mittel, über die sie jedoch als Erwachsene verfügen, verkehrt sich ihre Rolle unbewusst in die des Täters oder der Täterin. Der psychologische Fachausdruck für diesen Prozess lautet Täter-Opfer-Perversion. Das scheinbare Opfer fügt dabei dem scheinbaren Täter genau jene Schmerzen zu, die es selbst nicht fühlen möchte. Dies geschieht, wenn … ich aus Angst vor Verletzung meinen Partner oder potenziellen Partner immer wieder auf Distanz halte. Der Partner bekommt die Verletzung und Zurückweisung zu spüren, die ich für mich selbst vermeiden möchte.
… ich aus Angst, in eine unterlegene Position zu geraten, den anderen kontrolliere und abwerte – dann wird sich der andere in meiner Gegenwart häufig unterlegen und kontrolliert fühlen.
… ich aus Angst vor persönlichen Angriffen und Zurückweisung den anderen auflaufen lasse – dann wird sich der andere von mir abgewiesen und verletzt fühlen.
… ich aus Angst, meine persönlichen Freiräume zu verlieren, kompromisslos die Nähe und Distanz in einer Beziehung allein bestimme – dann verliert der andere die Freiheit über seinen Terminkalender.
Die Liste der Beispiele ließe sich noch lange fortsetzen. Im Grunde ist es fast immer so, dass ich, indem ich Dinge bei mir unbewusst und unreflektiert abwehre, dem anderen genau das zufüge, was ich selbst nicht spüren möchte. Dies gilt auch für den Fall, dass ich unliebsame Regungen und Triebe, die zu mir gehören, auf einen anderen Menschen projiziere. Bin ich selbst aggressionsgehemmt, so kann es mir schnell passieren, dass ich den anderen für gefährlich halte. Oder ich gestehe mir nicht ein, wie neidisch ich auf meinen erfolgreichen Nachbarn bin, und unterstelle ihm, dass er ein blöder Angeber sei, nur weil er ein schickes Auto fährt. Vielleicht habe ich auch das Gefühl, dass mein Gesprächspartner unaufrichtig und wenig authentisch ist, dabei bin eigentlich ich selbst es, die nur mit einer Tarnkappe aus dem Haus geht.
Wir projizieren jedoch nicht nur in die negative Richtung. Insbesondere Menschen, die selbst sehr fair und anständig durchs Leben gehen, fehlt manchmal die Vorstellungskraft, wie niederträchtig, feige und neidisch sich manche ihrer Mitmenschen verhalten können. Sie neigen zu positiven Projektionen. Das ist zwar generell hilfreich für das Miteinander, weil der Umgang sich dann auf ganz ungezwungene Weise wertschätzend gestaltet, allerdings führt es bei den Betroffenen auch immer wieder zu Verletzungen, wenn sie feststellen müssen, dass sie sich im anderen getäuscht haben.
Es passiert uns also ständig, dass wir etwas beim Gegenüber wahrnehmen, was eigentlich zu uns selbst gehört. Deswegen ist es so wichtig, dass man sich seiner inneren Vorgänge möglichst bewusst ist. Je klarer ich mir nämlich meiner selbst bin und meine entwicklungsbedürftigen Seiten kenne, desto besser kann ich sortieren und einschätzen, welche Introjektion beziehungsweise Projektion zu mir gehört und was tatsächlich im Verantwortungsbereich meines Gegenübers liegt. Übungen, die dabei helfen, stelle ich unter dem Abschnitt »Vierter Schritt: sich aus der Verstrickung lösen und dem Leben Sinn geben« vor.
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