Wws-T2: Fallgeschichten - Stefan hat Angst, als Vater zu versagen Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten

Stefan hat Angst, als Vater zu versagen

Stefan arbeitet im Finanzwesen als Abteilungsleiter. Er ist 33 Jahre alt und hat eine vierjährige Tochter. Von der Mutter seiner Tochter lebt er seit einigen Jahren getrennt. Die Trennung verlief einvernehmlich. Seine Ex-Partnerin hat einen neuen Partner, mit dem sie auch zusammenlebt. Stefan sorgt sich um seine Vaterrolle.

Dass er sich schon viele Gedanken um Persönlichkeitsentwicklung gemacht hat, merkt man ihm im Gespräch an. Er ist sehr offen und selbstre ektiert.

„Meine Ex-Partnerin und ich haben uns getrennt, als unsere Tochter eineinhalb Jahre alt war. Unsere Lebensplanung hatte sich stark in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Für uns beide war die Trennung die richtige Entscheidung. Insofern haben wir auch ein wunderbares Verhältniszueinander. Wir kommen wirklich ohne jegliche Streitereien aus.

Vor etwa zwei Jahren, kurz nach unserer Trennung, kam der neue Partner ins Leben meiner Ex-Freundin. Inzwischen sind die beiden auch verheiratet. Ich habe auch zu ihm ein wunderbares Verhältnis, das ist also überhaupt kein heikles Thema. Und wir wollen auch wirklich zu dritt für die Kleine da sein und etwas Gemeinsames aufbauen. Das ist uns ganz besonders wichtig.

Trotzdem habe ich die grundsätzliche Sorge – und da triggern mich auch einige Ereignisse –, dass ich zum »Zweitpapa« werden könnte. Ich frage mich, wie ich es schaffe, die Beziehungsebene zu meiner Tochter so aufzubauen, dass ich weiterhin als der eigentliche Vater wahrgenommen werde. Der Stiefvater soll gern eine Ergänzung sein, aber er soll nicht als vollwertiger Ersatz wahrgenommen werden.“

1. Welche Inkonsistenz beschreibt Stefan hier? Welche psychischen Grundbedürfnisse sind bedroht?

„Ich sehe meine Tochter aber rein zeitlich deutlich weniger als der Stiefvater. Die drei wohnen zusammen, sie hat auch eine super Beziehung zu ihm. Ich sehe sie an zwei Vormittagen unter der Woche und dann am Sonntag. Mehr ist für mich schwer zu organisieren.“

Die Frage, die sich daraus ergibt, ist: Muss ich mich um meine Position sorgen? Ist diese Sorge überhaupt berechtigt? Oder existiert die nur in meinem Kopf?

Also was davon ist tatsächlich objektiv so, dass man sagt, da sollte man auch dran arbeiten? Was kann ich tatsächlich kontrollieren? Und worauf habe ich keinen Einfluss?“

2. Stefan ist sehr reflektiert: Mit welchem psychologischen Mechanismus setzt er sich hier auseinander?

„Mein Wunsch wäre tatsächlich so eine klassische Vater-Tochter-Beziehung. Ich bin da auch durch den Verlust in meiner eigenen Kindheitsgeschichte geprägt. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich acht Jahre alt war. Ich habe meinen Vater damals in gewisser Weise verloren. Ob ich das ganz aufgearbeitet habe, weiß ich nicht.“

3. Wie könnte diese Erfahrung Stefans Vaterschaft prägen?

„Ich hatte jedenfalls viele Jahre damit zu tun. Nachdem mein Vater weg war, hat mich das wirklich aus der Bahn geworfen. Ich hatte dann ein extremes Autoritätsproblem. Das ist wahrscheinlich sogar immer noch da, aber mittlerweile habe ich einen bewussteren Umgang damit. Aber ich habe jahrelang keinerlei Autoritäten anerkannt, weder Lehrer noch irgendeinen Erwachsenen.“

4. Welche Emotion ist hier im Spiel und warum hat Stefan vermutlich so ein Problem mit Autoritäten entwickelt?

„Das hat mich dann auf die Hauptschule gebracht. Dann musste ich später alles aufarbeiten: Ich habe dann die Realschule nachgeholt, dann das Gymnasium, dann bin ich studieren gegangen. Ich gehe zwar eigentlich davon aus, dass ich meinem Vater inzwischen verziehen habe, wie er meinen Lebensweg erschwert hat. Aber da ist mit Sicherheit noch die eine oder andere Facette meines Schattenkindes, die noch nicht zu 100 Prozent verziehen hat. Mag sein, dass mich das beeinflusst.

Als meine Tochter Svea dann kürzlich Tobias – so heißt der Mann ihrer Mutter – in meinem Beisein » Papa« genannt hat, hat mich das echt getriggert. Ich brauchte danach Monate, um mit mir wieder ins Reine zu kommen. Mir ist bewusst, dass ich da etwas mit mir herumtrage, und das möchte ich auf keinen Fall auf Tobias oder auf Svea projizieren.“

5. Was könnte es sein, was Stefan mit sich herumträgt? Welche Emotion könnte dahinterstecken? Was dürfte das mit seinem Selbstwertgefühl zu tun haben?

„Ich befasse mich auch seit vielen Jahren mit Buddhismus, Persönlichkeitsentwicklung, weil ich als Führungskraft selbstreflektiert sein muss. Deswegen sind mir viele Prozesse bewusst, die in mir ablaufen, aber bewusst zu unbewusst ist ja auch noch mal ein Unterschied. Ich habe jedenfalls das Thema ganz sachlich angesprochen. Ich habe Svea erklärt, dass ich einfach verwirrt bin, wenn ich nicht weiß, wen sie meint. Jetzt sagt sie manchmal »Tobi« oder »Papa Tobi«, manchmal aber auch direkt »Papa«. Das ist auch nicht überraschend, weil Tina, meine Ex-Partnerin, ihn als »Papa« vor ihr anspricht. Wenn sie mit Svea redet, sagt sie »der Papa«.“

6. Wie könnte man das Verhalten der Ex-Partnerin bewerten? Woran fehlt es Stefan vielleicht? Was sagt diese Passage über seine Unsicherheit aus?

„Ich käme damit vielleicht besser zurecht, wenn ich mehr Zuversicht entwickeln könnte. Wenn ich wüsste: »Okay, die Konkurrenzsituation gibt es eigentlich nicht. Tobi und ich sind keine Konkurrenten.« Tobi hat auch schon geäußert, dass das sein Wunsch ist. Und wenn ich mehr Zutrauen hätte, dass ich nichts großartig falsch mache als Vater und auf jeden Fall eine innige Vater-Tochter-Beziehung entstehen kann, dann wäre ich weniger unsicher. Dann würde mich auch der zeitliche Vorsprung, den Tobi nun mal hat, nicht so triggern.“

Hier bestätigt sich, dass Stefan unsicher ist, ob er ein guter Vater sein kann.

„Svea ist nicht im Kindergarten, sondern wir versuchen, das interfamiliär zu organisieren mit Großeltern und uns drei Erwachsenen. Daraus hat es sich in den ersten Jahren wohl auch entwickelt, dass sie sehr mamafixiert war. Das heißt, in den ersten Jahren war es sehr schwer, dass sie mit mir allein Zeit verbracht hat. Da haben wir immer zu dritt etwas gemacht.

Aber mittlerweile verbringt sie auch mit mir viele Stunden alleine, teilweise sogar den ganzen Tag. Jetzt hat sie tatsächlich zum ersten Mal vor ein paar Wochen alleine bei mir übernachtet und es hat sehr gut geklappt. Das war vorher überhaupt nicht möglich. Also das Zutrauen nimmt langsam zu. Das hatte ich selbst so nie zu meinem Vater. Das gelingt mir besser.

Ich frage mich im Nachhinein, warum ich meine Ängste und Bedürfnisse eigentlich nicht deutlich thematisiert habe. Warum habe ich zum Beispiel nicht darum gebeten, dass der Tobi mit »Daddy« angeredet wird und ich mit »Papa«? Mir ist aber erst später klar geworden, wie wichtig mir diese
Unterscheidung ist.“

7. Was zeigt sich hier noch einmal deutlich in Bezug auf Stefans Selbstwertthema und seine bisherigen Bewältigungsstrategien?

„Ich nehme bei mir häufiger wahr, dass ich länger brauche, um meine Bedürfnisse überhaupt wahrzunehmen. Noch länger brauche ich dann, um meine Wünsche auch zu kommunizieren.

Harmonie- und Perfektionsstreben sind Themen, an denen ich schon seit Längerem arbeite. Ich arbeite daran, eben nicht den Anspruch nach Perfektion zu haben. Ich habe als Kind oft vermittelt bekommen, dass ich den Ansprüchen nicht genüge. Ich komme aus einer sowjetischen Familie mit entsprechenden Erziehungsmethoden. Mutter überfordert. Vater überfordert. Ich habe durchaus auch körperliche Gewalt erlebt als Kind. Auch mal mit dem Gürtel. Ich habe sicherlich verinnerlicht, genügen zu wollen und es anderen recht machen zu wollen. Ich möchte in allem perfekt sein, was ich tue. Ich möchte auch den Frieden in dieser Familienkonstellation auf keinen Fall gefährden. Also von meiner Seite besteht da durchaus ein verstärktes Harmoniebedürfnis.“

In dieser Passage bestätigt sich noch einmal, wie stark Stefan sich als Kind aufgrund der mangelnden Empathie und der Gewalttätigkeit seiner Eltern auf diese einstellen und überanpassen musste und welchen negativen Einfluss das auf sein Selbstwertgefühl hatte. Auch seine überangepassten Schutzstrategien, wie Perfektions- und Harmoniestreben, kommen hier noch einmal deutlich zum Ausdruck.

„Das betrifft mich auch in anderen Situationen. Daran arbeite ich jetzt schon seit vielen Jahren. Ich zwinge mich quasi, sobald ich das wahrnehme, aus meiner Komfortzone hinauszutreten in die Wachstumszone. Aber in diesem Fall ist mir das nicht gut gelungen.“

8. Was ist seine Komfortzone und was ist seine Wachstumszone?

„Dazu kommt, dass Tina, meine Ex-Partnerin, dieses Thema anders wahrnimmt. Sie hat überhaupt kein klassisches Papa-Tochter-Bild im Kopf. Sie hat kein gutes Verhältnis zu ihrem Vater und sagt: »Ich habe männliche Bezugspersonen in meinem Leben, und diese können vatergleich sein.«“

9. Was für eine Projektion überträgt die Ex-Partnerin auf die Familienkonstellation?

„Ich würde mir eigentlich wünschen, dass Tina unserer Tochter erklärt, was es eigentlich mit den zwei Vaterfiguren auf sich hat. Ich möchte, dass die Kleine weiß, dass wir zwar nicht zusammen sind – aber sie deshalb nicht auf mich und ihre Familie verzichten muss. Nicht jetzt und nicht in Zukunft.

Für mich selbst wünsche ich mir auch, dass mein Schattenkind wirklich versteht, dass ich in dieser Situation, die nicht meinen Wunschvorstellungen entspricht, trotzdem irgendwie genüge. So nach dem Motto: Ich bin okay, wir sind als Familie okay. Meine Ratio versteht das. Aber mein Unterbewusstsein funkt mir dazwischen. Wie schaffe ich es, mich umzuprogrammieren und meinen Fokus auf das zu richten, was eigentlich ziemlich gut läuft?“

Hier fasst Stefan gut zusammen, woran er arbeiten muss. Wie es ihm gelingen könnte, sich umzuprogrammieren, zeige ich im dritten Abschnitt dieses Buches auf.

Meine Überlegungen zu Stefan

1. Stefan möchte die väterliche Hauptbezugsperson für seine Tochter sein, er hat jedoch das Gefühl, eher in der zweiten Reihe zu stehen. Sein Selbstwertgefühl und sein Bindungsbedürfnis sind bedroht. Damit einhergehend erleidet er einen starken Kontrollverlust, weil er die Situation kaum mitgestalten kann. Hierdurch entstehen Unlustgefühle wie Verlustangst, Eifersucht und Kränkung. Mithin sind alle vier psychischen Grundbedürfnisse bei Stefan betroffen.

2. Stefan fragt sich, ob er die Situation falsch beurteilt, indem er eigene Anteile in sie hineinprojiziert. Er möchte genau verstehen, welche subjektiven Anteile des Problems also auf seiner Seite zu verorten sind und welche Anteile in der Verantwortung der anderen Beteiligten, wie Kindesmutter oder Stiefvater, liegen.

3. Der frühe Verlust seines Vaters scheint Stefan damals stark getroffen zu haben. Es scheint so, als ob diese Erfahrung in ihm den starken Wunsch auslöst, seinem Kind ein besonders guter und präsenter Vater zu sein.

4. Hinter dem Aufbegehren gegen Autoritäten steckt Wut. Man darf annehmen, dass der Weggang seines Vaters Stefan sehr wütend gemacht hat und dass er diese Aggression auf Autoritäten im Allgemeinen projiziert hat. Übrigens verarbeiten Jungen und Männer Gefühle von Niedergeschlagenheit und Trauer häufig über Wut und Aggression. Deswegen verstecken sich Depressionen bei Männern und Jungen nicht selten hinter aggressiven Verhaltensweisen.

5. Die Emotionen, die Stefan in dieser Situation gesteuert haben, dürften Verlustangst, Eifersucht und Wut sein. Ich vermute, dass er ein geringes Selbstwertgefühl mit sich herumträgt und Angst hat, als Vater seiner Tochter nicht zu genügen – so, wie sein Vater nicht genügt hat. Als Kind wird er den Verlust des Vaters höchstwahrscheinlich auf sich selbst bezogen haben. Hieraus könnten Glaubenssätze entstanden sein wie: Ich genüge nicht! Ich bin nicht wichtig! Ich bin nicht liebenswert! Ich bin wertlos!

6. Dass Stefans Ex-Partnerin ihren neuen Partner als Sveas »Papa« bezeichnet, empfinde ich als etwas respektlos und wenig empathisch.

Meines Erachtens könnte sie feinfühliger und überlegter die Rolle Stefans als leiblicher und zugewandter Vater respektieren. Dass Stefan dies einfach so hinzunehmen scheint, deutet darauf hin, dass er über keine guten Selbstbehauptungsfähigkeiten verfügt.

7. Hier zeigt sich, was ich unter dem obigen Punkt vermutet hatte: Stefan ist konfliktscheu und bemüht, es allen recht zu machen. Wie alle Überangepassten hat er einen schlechten Zugang zu seinen Gefühlen und spürt deswegen nicht, wenn jemand seine Grenzen verletzt.

8. Stefans Komfortzone ist sein überangepasstes, konfliktscheues Verhalten. Seine Wachstumszone wäre, dass er seine Bedürfnisse wahrnimmt und für sich eintritt.

9. Hier wird deutlich, dass die Kindesmutter ihr schwieriges Verhältnis zu ihrem leiblichen Vater auf die gegenwärtige Situation beziehungsweise auf Stefan projiziert. Indem sie von männlichen Bezugspersonen spricht, die »vatergleich« sein können, mindert sie Stefans Bedeutung als Vater, was Stefan zusätzlich zu seinen eigenen Selbstzweifeln verunsichert.