Wws-T2: Fallgeschichten - Sara lehnt ihr Kind ab Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Sara lehnt ihr Kind ab
Sara, 29 Jahre, hat einen drei Jahre alten Sohn. Nach seiner Geburt erlitt sie eine postnatale Depression. Sie und der Vater des Kindes erlebten das Elternsein als totale Überforderung: Ihr Mann trennte sich von ihr und ließ sie mit dem Kind allein. Heute hat sie sich von der schwierigen Zeit erholt, sie hat eine gute Bindung zu ihrem Kind aufgebaut, sie studiert. Trotzdem kämpft sie immer wieder mit einem Gefühl von Ohnmacht und Angst. Sie will heraus nden, wie sie in solchen Momenten zu mehr Stärke und Autonomie findet.
„Nachdem mein Sohn geboren war, konnte ich keine gute Bindung zu ihm aufbauen. Ich bin nach der Geburt in eine schwere Depression gerutscht. Heute geht es mir viel besser, aber ich spüre ganz stark, dass mir immer noch etwas fehlt. Was das ist, möchte ich gerne herausfinden.
Meinen Ex-Mann habe ich mit 20 kennengelernt, er war damals 35, also deutlich älter als ich. Ich hatte gerade mein Abitur gemacht. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick, es war sehr romantisch. Als ich ihm begegnete und sehr schnell zu ihm zog, hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, ich bin frei.“
1. Was mag sich hinter Saras Sehnsucht nach Freiheit verbergen? Welche Wünsche könnte sie auf ihren Ex-Mann projiziert haben?
„Meine Eltern waren sehr behütend, man könnte auch sagen vereinnahmend oder bestimmend. Meine Mutter, sie ist Marokkanerin, war das auf eine positive Art, sie war warm, sehr herzlich. Mein Vater dagegen ist sehr cholerisch, er hat immer versucht, mich in einer Art Käfig zu halten. Für ihn war wichtig, dass ich funktioniere und in der Schule Leistung zeige. Ich sage mal: Er war da sehr deutsch. Er hat viel Druck gemacht. Eigentlich habe ich 20 Jahre lang bei meinen Eltern eine Rolle gespielt und mich möglichst so verhalten, dass ich keinen Ärger bekomme. Mein Freund dagegen hat mir eine Tür aufgemacht: Ich wusste, hier kann ich »ich« sein. Fröhlich oder wütend. Offen und frei. Ich war natürlich noch sehr jung, sehr unerfahren. Ich wusste nicht wirklich, wie das Leben funktioniert.“
2. Wie zu erwarten, hat Sara Vereinnahmung und Druck durch ihre Eltern erfahren. Sie war überangepasst und hat eine Rolle gespielt. Welchen Einfluss dürfte das auf ihre psychischen Grundbedürfnisse gehabt haben?
„Wir haben dann ziemlich schnell geheiratet, ich fing an zu studieren. Und irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem wir sagten: »Ja, wir wollen ein Kind.« Für mich war das mit Mitte 20 eigentlich ein guter Zeitpunkt. Aber es kam dann ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Leider war mit dem Tag der Geburt mein Leben zu Ende. Das begann schon mit meinem Gefühl direkt nach der Geburt: Mein Sohn lag auf meiner Brust, ich habe ihn angeschaut und gedacht: »Du hast mir das angetan.« Ich habe ihn für meine Schmerzen verantwortlich gemacht.“
3. Welches Gefühl aus Saras Kindheit könnte durch ihre Elternschaft getriggert worden sein?
„Dazu kam, dass mein Sohn als Baby gefühlt nur geschrien und nie geschlafen hat. Ich hatte im ersten Jahr nie das Gefühl, es ist schön und bereichernd, dass er da ist. Ich konnte nichts mehr machen, ohne zu denken: »Wie geht es meinem Baby?« Mein Mann hat gearbeitet. Wenn er dann zu Hause war, waren wir beide völlig hilflos mit der Situation. Und wir waren eigentlich nur damit beschäftigt, das Baby zu beruhigen. Wir waren völlig überfordert.“
Schreikinder stellen einen Risikofaktor für postnatale Depressionen dar. Nicht nur Sara, sondern auch ihr Mann war mit der Situation völlig überfordert. Die Ursachen für postnatale Depressionen sind noch nicht ganz geklärt. Hormonumstellungen spielen eine geringere Rolle, als man bisher angenommen hat. Einen größeren Einfluss haben äußere Stressoren, wie mangelnde Unterstützung, Trennung des Partners oder Tod einer wichtigen Bindungsperson. Und natürlich ist auch die psychische Grundverfassung der betroffenen Eltern ein wichtiger Faktor.
Übrigens können auch Väter unter einer postnatalen Depression leiden. Möglicherweise war auch Saras Mann zu diesem Zeitpunkt depressiv.
„Ich dachte die ganze Zeit: »Was tut mir mein Kind da an?« Ich konnte keine gute Bindung aufbauen, da war immer nur dieses Pflichtgefühl: »Du musst ihn stillen, du musst ihn wickeln. Du musst ihn anlächeln, du musst mit ihm spielen.« Ich habe all das aber nicht gerne gemacht. Ich habe eine Rolle erfüllt. Die Liebe, die ich damals für mein Kind gespürt habe, war eine kalte Liebe.“
4. Ich erinnere an das »gespiegelte Selbstwertemp nden« – was spiegeln sich Mutter und Kind hier?
„Die Stimmung zwischen meinem Mann und mir wurde so schlecht, dass ich ihm nur noch Anweisungen gegeben habe: Wickeln! Anziehen!Tragen! Aber er hat wenig gemacht. Ich kann mich noch genau an eine Szene erinnern, als er von der Arbeit nach Hause kam, sich aufs Sofa setzte und irgendwelchen Papierkram erledigen wollte. Ich sagte: »Nimm ihn doch bitte mal. Ich möchte einmal am Tag in Ruhe aufs Klo gehen oder duschen oder was auch immer.« Da ist er richtig wütend geworden, hat alles auf den Boden geschmissen. So hatte ich ihn bis dahin nie erlebt.“
Saras Mann war auch sehr überfordert, und somit hat er Sara zu wenig entlasten können. Zudem könnte der plötzliche Wutausbruch auf eine gewisse Konfliktscheu seinerseits hindeuten. Es scheint sich in ihm etwas länger angestaut zu haben.
„Irgendwann ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen: Wir waren überhaupt nicht mehr nett im Umgang miteinander. Da habe ich ihn gefragt: »Willst du eigentlich noch mit mir zusammen sein?« Und er meinte: »Nein.« Sobald das ausgesprochen war, war die Beziehung für ihn zu Ende. Von jetzt auf gleich. Ich war supertraurig, superdeprimiert, habe ihn monatelang angebettelt, dass er zurückkommt. Aber er wollte nicht. Ich habe nach der Trennung realisiert, wie sehr ich mit ihm verschmolzen war, wie emotional abhängig ich war. Ich war gar nicht frei. Ich brauchte immer viel Bestätigung von ihm, habe immer nur im »Wir«-Modus gedacht.“
Was hier auffällt, ist, dass der Trennung eigentlich keine Problemgespräche oder Lösungsversuche vorausgegangen sind. Auch wenn die Stimmung schon lange schlecht gewesen war, kam die Trennung für Sara trotzdem sehr unvorhersehbar. Kein Wunder, dass sie am Boden zerstört war, zumal sie ja mit dem Kind ohnehin stark überfordert war. Sara realisiert hier aber auch, wie stark sie ihren Mann als Stütze für ihr Selbstwertgefühl benötigt hat – hierin könnte eine Chance für sie liegen.
„Und er hatte eine Persönlichkeit, die es mir die ganze Zeit recht machen wollte. Er hat eigentlich alles für mich getan, mich auf Händen getragen. Er hat oft lieber nachgegeben als zu streiten. Sein Haupttrennungsgrund war dann, dass er darauf keine Lust mehr hatte. Mich hat sehr gedemütigt, dass er meinte, er wäre schon seit Jahren nicht mehr glücklich in der Beziehung. Ich dachte: »Wie kann er es wagen, mich nicht mehr zu lieben?« Mein Urvertrauen war total erschüttert.“
5. Dieser Abschnitt sagt sehr viel über die psychologische Struktur ihres Mannes aus. Wie kann man sein Verhalten analysieren?
„Leider hatte ich keine Zeit, um darüber traurig zu sein. Ich konnte ja nicht im Bett liegen, Serien schauen, Eis essen, ich hatte ja das Kind. Ich stand alleine da mit der Verantwortung. Aber ich habe mich nach der Trennung sehr stark entwickelt, viel mehr meine Mitte gefunden.“
6. Was meint Sara, wenn sie sagt, sie habe mehr in ihre Mitte gefunden?
„Ich weiß jetzt, auch mit einem Kind kannst du dein Leben leben. Es kann auch sehr schön und bereichernd sein, Mutter zu sein.“
7. Wieso hat sich Saras Beziehung zu ihrem Kind verbessert?
„Heute würde ich sagen, die Trennung ist das Beste, was mir passieren konnte. Ohne sie wäre ich niemals erwachsen geworden. Aber ich bin immer noch wütend über die Zeit damals. Ich war so hilflos, musste von heute auf morgen damit klarkommen. Da war plötzlich keiner mehr, der für mich die Verantwortung übernommen hat.“
8. Woran könnte es liegen, dass Sara immer noch wütend ist?
„Ich habe dann wieder bei meinen Eltern gewohnt, aber das habe ich zwei Wochen ausgehalten, dann haben mein Vater und ich uns wieder angeschrien. Und meine Mutter war sehr, sehr traurig. Ich hatte aber das Glück, dass ich in ein Studentenwohnheim für studierende Eltern ziehen konnte.
Es passiert mir immer wieder, dass ich über die Trennung weinen muss. Da kommt eine Angst hoch, ganz alleine zu sein. Nicht zu wissen, was ich machen soll. Niemand ist da, den ich um Hilfe bitten kann. Ich fühle mich dann ganz klein und denke panisch:»Ich schaffe das nicht alleine.« Dabei weiß die Erwachsene in mir längst, es gibt keinen Grund, warum ich das nicht schaffen soll. Ich habe ja schon viele Lebenssituationen gut hinbekommen. viele Freunde, Kontakt zu meiner Familie, ich weiß, was mir guttut. Und doch rutsche ich immer wieder in dieses Gefühl von großer Verlassenheit, fühle mich in eine Opferrolle gedrängt. Ich will wissen, welcher Schritt mir dabei helfen könnte, das loszuwerden und mich dann gut zu trösten. Dieses Schwere in mir möchte ich abschütteln.“
Hier zeigt sich, dass Sara immer wieder in ihr Schattenkind, also in einen Zustand von großer Verlassenheit abrutscht. Aber auch ihr Erwachsenen-Ich kommt deutlich zu Wort, das sie seit der Trennung von ihrem Ex-Mann sehr gestärkt hat.
„Ich denke, ich müsste trainieren, die kleine Sara von der großen Sara zu trennen. Wenn ich in diesem traurigen, schweren Zustand bin, dann bin ich voll mit der kleinen Sara identifiziert, dann glaube ich wirklich, ich schaffe das nicht. Wenn ich in meinem Erwachsenen-Ich bin, dann sehe ich viel klarer. Ich sollte mir einen neuen Glaubenssatz verinnerlichen: Ich schaffe das! Ich müsste auf meine Stärken schauen und auf alles, was ich bereits erreicht habe. Die Erwachsene müsste noch mehr die Oberhand über die kleine Sara behalten und diese auch öfter mal trösten und ihr erklären, wie das damals mit ihren Eltern gewesen ist.“
Genau, auf diesem Wege kann Sara es schaffen, immer mehr in ihre innere Balance und Stärke zu kommen.
Meine Überlegungen zu Sara
1. Wenn Sara sich in der Beziehung zu ihrem Mann das erste Mal frei gefühlt hat, lässt dies die Vermutung zu, dass sie ihre Kindheit und Jugend als einengend erlebt hat. Das Gefühl, unfrei zu sein, geht einher mit einer Überanpassung an die Bedürfnisse anderer Menschen beziehungsweise an ihre Eltern. Ihr älterer Partner dürfte für Sara die »Erlöserfigur« dargestellt haben, bei der sie das Gefühl
hatte, authentisch sein zu dürfen. Sie könnte auf ihn eine liebende und annehmende Vaterfigur projiziert haben.
2. Saras Bindungsbedürfnis wurde frustriert, weil sie nicht das Gefühl hatte, sie selbst sein zu dürfen. Ihr Bedürfnis nach Autonomie wurde frustriert, weil sie zu wenig in ihrer Selbstständigkeit gefördert wurde. Beides dürfte auf ihr Bedürfnis nach Selbstwert einen negativen Einfluss genommen haben: Sie traut sich nicht genügend zu und hat das Gefühl, nicht zu genügen. Alles zusammen hat natürlich auch zu Unlustgefühlen wie Frustration, Ärger oder Niedergeschlagenheit geführt. Wie so oft sind also alle vier psychologischen Grundbedürfnisse betroffen.
3. Die Geburt ihres Sohnes hat in Sara ihr Schattenkind getriggert, nun fühlt sie sich wieder – wie früher bei ihren Eltern – stark unter Druck, sie muss funktionieren und besitzt keine Freiheit mehr. Obwohl es sich ja um ein Wunschkind handelt, scheint dieses Gefühl der Freiwilligkeit mit der Geburt des Kindes in ein Verpflichtungsgefühl umgekippt zu sein. Die Erfahrung, dem Geburtsschmerz ohnmächtig ausgeliefert zu sein, hat dieses Empfinden anscheinend noch verstärkt.
4. Schreikinder sind nicht nur deshalb so anstrengend, weil sie ihre Eltern nicht zur Ruhe kommen lassen, sondern auch, weil sie diese so hilflos machen und ihnen hierdurch das Gefühl geben, keine guten Eltern zu sein. Im Sinne des Selbstwertspiegels spiegelt Saras Kind ihr: Du bist eine schlechte Mama, du kannst mich nicht beruhigen! Das frustriert Sara natürlich ungeheuer und macht es ihr schwer, eine liebevolle Beziehung zu dem Kind aufzubauen. Umgekehrt bekommt das Kind von seiner Mutter entsprechend auch nicht die Liebe und Freude gespiegelt, die es für einen sicheren Bindungsaufbau benötigt.
Schreikinder weisen ein höheres Risiko auf als andere Kinder, eine unsichere Bindung an ihre Mütter zu entwickeln. Die Ursachen, warum manche Babys so viel schreien, sind noch unklar. Ausschließen kann man aber, dass die Eltern durch inkompetentes Verhalten hieran die Schuld trügen.
5. Saras Ex-Mann ist offensichtlich überangepasst und sehr konfliktscheu. Harmoniestreben stellt eine zentrale Selbstschutzstrategie von ihm dar. Das führt zwangsläufig zu einer geringen Offenheit. Konfliktscheue verbiegen sich in Liebesbeziehungen, was sie sich zwar auch ein bisschen selbst verübeln, aber noch mehr dem scheinbar dominanten Partner.
Beziehungsprobleme werden nicht angegangen, sondern unter den Teppich gekehrt, und dies meistens so lang, bis alle Gefühle für den Partner erkaltet sind, und dann bleibt nur noch die Trennung. Diese
erfolgt für den Partner häufig aus heiterem Himmel, weil der Konfliktscheue bis dahin seine wahren Gefühle und Probleme verborgen gehalten und äußerlich funktioniert hat.
6. »In seine Mitte finden« ist ja ein gängiger Ausdruck für mehr innere psychische Stabilität. Diese Formulierung Saras verweist darauf, dass sie in eine bessere Balance zwischen Anpassung und Autonomie gekommen ist. Sie hat ihre autonomen Fähigkeiten gestärkt und hierdurch einen besseren Kontakt zu ihren eigenen Gefühlen gewonnen. Als Überangepasste war sie zu stark mit den Gefühlen ihres Partners und anderer Menschen identifiziert. Jetzt spürt sie besser, was sie selbst möchte, und übernimmt für die Erfüllung ihrer Bedürfnisse die Verantwortung. Hierdurch entwickelt sie eine höhere internale Kontrollüberzeugung, was ihr Selbstwertgefühl stärkt.
7. Indem Sara nicht einfach nur »funktioniert«, sondern in die Selbstverantwortung gegangen ist, verändert sich ihre Beziehung zu ihrem Kind. Sie fühlt sich freier, und hierdurch projiziert sie in das
Kind nicht mehr so viel »Pflichterfüllung« hinein. Wo weniger Pflicht und Zwang, da mehr Raum für Liebe und Zuneigung.
8. Ich vermute, dass sie nach wie vor große Wut auf ihren Mann verspürt, weil dieser sie einfach im Stich gelassen hat. Zudem dürfte da auch eine große Wut auf ihre Eltern sein, die sie weder früher noch heute wirklich unterstützt und aufgefangen haben. Letztlich wird sich ihre Wut auch auf sich selbst richten, weil es vermutlich immer noch Situationen gibt, in denen sie sich hilflos und überfordert fühlt. Letzteres dürfte auch der Grund sein, weshalb Sara schlecht von ihrer Wut loslassen kann. Die Wut stellt sich aus der Frustration ihrer Bedürfnisse nach Sicherheit, Kontrolle und Bindung ein. Ich erinnere daran, dass Frustration oft Aggression hervorruft.
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