Wws-T3: Metastrategien für Autonome Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Metastrategien für Autonome
Es mag überraschend klingen, aber Autonome sind im Herzen ebenfalls überangepasst. Anstatt jedoch die Erwartungen ihrer Nebenmenschen zu erfüllen, rebellieren sie gegen diese. Beruflich sind Autonome häufig zielstrebig, im Privatleben fällt es ihnen hingegen schwer, sich festzulegen.
Ihre Gefühle senden ihnen unklare Signale. Vor allem Gefühle, die im Dienst der Bindung stehen, wie Hilflosigkeit, Trauer und Angst, aber auch Zuneigung und Liebe werden von ihnen unbewusst abgewehrt. Engen Bindungen weichen Autonome gern aus, bedrohen sie doch ihre Freiheit und ihr Selbstwertgefühl. Für die Verbesserung ihrer Bindungsfähigkeit benötigen sie jedoch diese Gefühle. Deswegen unterstütze ich sie dabei, sie zu spüren und zuzulassen (siehe dazu auch »Gefühle wahrnehmen«).
Einen besseren Zugang haben Autonome zu Gefühlen, die ihnen Stärke verleihen, wie Trotz oder Wut. Diese Emotionen benötigen sie, um ihre Grenzen zu behaupten. Autonome weisen ein hohes Vermeidungsmotiv auf: Sie wollen vermeiden, dass andere sie manipulieren, sie ihrer Freiheit berauben, sie bevormunden und vereinnahmen. Für Autonome besteht eine wichtige Metastrategie darin, sich immer wieder bei ihren trotzigen Gefühlen zu ertappen, die anzeigen, dass sie sich wieder in der Projektionswelt ihres Schattenkindes befinden. Es geht darum, ihre reflexartige Verweigerungshaltung aufzulösen, die echte und vermeintliche Erwartungen ihrer Mitmenschen in ihnen triggern. Ähnlich wie die Überangepassten dürfen sie stattdessen lernen zu spüren, was sie wirklich wollen, um sich dann entweder freundlich dagegen zu entscheiden oder mit einem guten Gefühl dafür – oder einen Kompromiss auszuhandeln. Ein wichtiger Merksatz für Autonome lautet: Es geht keine Information verloren, wenn man etwas freundlich formuliert. Häufig erfolgt ihre Abgrenzung nämlich rigide und schroff. Ein Autonomer, der sein Schattenkind heilt, wird jedoch zunehmend weniger die Notwendigkeit verspüren, sich gegen die Erwartungen seiner Mitmenschen abzugrenzen, weil er durch den Zugewinn an innerer Stärke andere nicht mehr so schnell als übergriffig und feindselig wahrnimmt. Wähnte der Autonome bis dahin seine Freiheit darin, sich den Ansprüchen seiner Umgebung zu widersetzen, so erkennt er dann, dass die wahre Freiheit darin besteht, sowohl mit einem guten Gefühl Ja als auch mit einem guten Gefühl Nein sagen zu können. Bis dahin konnte er nicht mit einem guten Gefühl Ja sagen: Dies triggerte ein altes Kindheitsgefühl, sich den Ansprüchen der Eltern zu unterwerfen. Er konnte auch nicht mit einem guten Gefühl Nein sagen, weil dies kindliche Schuldgefühle hervorrief, nicht zu gehorchen. Als Metastrategie sollten Autonome sich ein für alle Mal klarmachen, dass sie heute »groß« sind und selbstverständlich Nein sagen dürfen. Mit diesem Gefühl von Wahlfreiheit müssen sie nicht mehr wie ein bockiges Kleinkind gegen die Erwartungen ihres Gegenübers rebellieren.
Autonome fühlen sich am sichersten, wenn sie die Kontrolle behalten. Sie haben einen Vertrauensschaden. Vertrauen ist das Gegenteil von Kontrolle und bedeutet immer, sich ein Stück weit in die Abhängigkeit von einem anderen Menschen zu begeben. Vielen Über-Autonomen ist nicht bewusst, dass sie ein Thema mit ihrer Vertrauensfähigkeit haben. Sie wundern sich eher, warum ihre Partnerschaften immer wieder scheitern, ihnen anscheinend einfach nicht die oder der Richtige begegnet. In den Gesprächen mit mir werden sie sich dieser Problematik bewusster und erwerben ein Verständnis für den Zusammenhang zwischen ihrem Vertrauensproblem und ihrem Selbstwertgefühl: Ihr Schattenkind rechnet mit Verlust und Zurückweisung, zumindest unter der Bedingung, dass sie authentisch sind. Sie glauben, sich den Erwartungen ihrer Partner unterwerfen zu müssen – das ruft ihren Trotz und Widerstand hervor, weswegen sie sich den Erwartungen ihrer Partner immer wieder entziehen beziehungsweise die Verbindung beenden. Die Arbeit am Selbstwertgefühl und die Entkopplung von alten Glaubenssätzen ist also, wie immer in der Psychotherapie, unabdingbar.
Da Autonome sich gern auf ihren Verstand verlassen, kann man diesen auch gut in der Psychotherapie einsetzen. Die Frage, welche rationalen Argumente dafürsprechen, einer bestimmten Person zu vertrauen beziehungsweise ihr nicht zu vertrauen, appelliert an den Verstand und stärkt somit das Erwachsenen-Ich des Klienten. Letztlich ist Vertrauen auch eine Frage der persönlichen Entscheidung. Wenn gute Argumente dafürsprechen, rate ich meinen Klientinnen und Klienten, eine klare Entscheidung für den Partner (oder eine andere Person) zu treffen. Diese Entscheidung fällt den Nähe üchtern leichter, wenn sie zeitlich begrenzt ist, beispielsweise auf den Zeitraum von einem Monat. Viele Betroffene machen in dieser Probezeit gute Erfahrungen und gehen in die Verlängerung.
Da Autonome stark damit beschäftigt sind, ihre persönlichen Grenzen zu schützen, bleibt nicht viel Raum für Empathie. Ebenso fehlt es ihnen an Wohlwollen: zwar nicht grundsätzlich, aber immer dann, wenn sie unter Erwartungsdruck geraten. Dann nämlich mutiert ihr Gegenüber in ihren Schattenkind-Augen schnell zum Feind. Ihre Wahrnehmung ist nicht positiv verzerrt wie bei den Überangepassten (Schönreden/Idealisieren), sondern negativ verzerrt (Argwohn, Schwächenzoom). Es hilft Autonomen, wenn sie sich in Empathie üben. Wenn sie sich empathisch in die Gefühle ihrer Partner hineinversetzen, stellen sie häufig fest, dass deren Ansprüche durchaus berechtigt sind. Häufig spüren sie dann auch, wie schmerzhaft sich ihre Verweigerungshaltung für ihr Gegenüber anfühlt, was nicht nur ihr Mitgefühl hervorruft, sondern auch ihren Blick schärft für den eigenen Anteil am Konflikt.
Wie man unterschiedliche Wahrnehmungs-Perspektiven gezielt in der Psychotherapie einsetzen kann, darauf gehe ich im nächsten Abschnitt noch weiter ein.
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