DgB-Teil3: Die Nation Das Instrument des Regierens ist das wichtigste politische Problem, mit dem menschliche Gemeinschaften konfrontiert sind. Sogar Konflikte innerhalb der Familie sind oft ein Resultat dieses Problems. Seit dem Entstehen der modernen Gesellschaften ist dieses Problem ein sehr ernstes geworden.

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Die Nation ist der nationale politische Schutzschirm des Einzelnen, und er ist weiter gespannt als der soziale Schutzschirm, den der Stamm seinen Angehörigen bietet. Die Stammesgesellschaft fügt dem Nationalismus Schaden zu, weil die Treue zum Stamm die Loyalität gegenüber der Nation schwächt und auf ihre Kosten blüht und gedeiht. Auf dieselbe Weise blüht und gedeiht auch die Loyalität gegenüber der Familie auf Kosten der Stammesloyalität, die sie schwächt. Nationaler Fanatismus ist ein Grundelement der Nation, aber gleichzeitig ist er eine Bedrohung für die Menschheit.

Die Nation innerhalb der Weltgemeinschaft ähnelt der Familie innerhalb des Stammes. je mehr die Familien eines Stammes im Streit miteinander liegen und je fanatischer sie werden, desto bedrohter ist der Stamm. Gleichermafšen ist auch die Familie bedroht, wenn die Mitglieder dieser Familie Streit miteinander haben und jedes von ihnen nur auf den eigenen Vorteil aus ist, und wenn die Stämme einer Nation miteinander streiten und nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind, ist auch diese Nation bedroht. Nationaler Fanatismus, der Einsatz von nationaler Gewalt gegen schwache Nationen oder auch der nationale Fortschritt als Ergebnis des Ausplünderns anderer Nationen sind schlecht und schädlich für die Menschheit. Das starke und kraftvolle Individuum jedoch, das sich selbst achtet und sich seiner eigenen Verantwortung bewusst ist, ist wichtig und nützlich für die Familie, so wie auch eine starke und geachtete Familie, die sich ihrer Bedeutung bewusst ist, sozial wie materiell für den Stamm nützlich ist. Gleichermaßen nützlich für die ganze Welt ist die fortschrittliche, produktive und zivilisierte Nation. Die nationale politische Struktur wird beschädigt, wenn sie sich auf eine niedrigere gesellschaftliche Ebene begibt, nämlich auf die Ebene der Familie und des Stammes, und versucht, auf dieselbe Weise wie diese zu agieren und sich ihre Ansichten zueigen zu machen.

Die Nation ist eine große Familie, die das Stammesstadium durchlaufen hat und auch die Verzweigung der Stämme, die aus einem gemeinsamen Ursprung hervorgegangen sind; sie beinhaltet auch jene Mitglieder, die sich ihrem Schicksal angeschlossen haben. Gleichermafšen wird die Familie erst größer und wächst zur Nation heran, nachdem sie das Stammesstadium und die Verzweigungen des Stammes durchlaufen hat sowie auch das Stadium der Angliederung, zu der es als Resultat verschiedener Arten von gesellschaftlicher Durchmischung kommt. Das wird unweigerlich über einen längeren Zeitraum hinweg erreicht. Obwohl der Lauf der Zeit neue Nationen erschafft, hilft er doch auch dabei, die alten zu zerstückeln. Die gemeinsame Abstammung und das durch Angliederung miteinander geteilte Schicksal sind jedoch zwei historische Grundlagen für jede Nation; die Abstammung kommt allerdings an erster Stelle, die Angliederung an zweiter. Eine Nation definiert sich nicht nur durch ihren Ursprung, auch wenn die Abstammung ihr Fundament und ihr Anfang ist. Zusätzlich dazu wird eine Nation durch im Lauf der Geschichte stattfindende Menschenansammlungen gebildet, also dadurch, dass eine Gruppe von Leuten bewogen wird, in einer bestimmten Gegend des Landes zu wohnen, eine gemeinsame Geschichte zu erwerben, ein gemeinsames Erbe herauszubilden und sich demselben Schicksal zu stellen. Schlussendlich definiert sich die Nation, unabhängig von Blutsbanden, durch das Zusammengehörígkeítsgefühl und durch ein gemeinsames Schicksal.

Aber warum hat man auf der Landkarte der Erde große Nationen gesehen, die verschwanden, um durch andere Nationen ersetzt zu werden, die selbst wieder anderen Nationen Platz machten? Ist der Grund dafür nur ein politischer, ohne Bezug zum gesellschaftlichen Aspekt der Dritten Universaltheorie? Oder ist es ein sozialer Grund und wird daher zu Recht in diesem Teil des Grünen Buchs behandelt? Sehen wir uns die Sache genauer an: Die Familie ist unbestrittenermaßen eine soziale Struktur, keine politische. Dasselbe gilt für den Stamm, weil er eine Familie ist, die sich fortgepflanzt und vermehrt hat und zu vielen Familien geworden ist. Dementsprechend ist die Nation ein Stamm, also eine Familie, die gewachsen ist und deren Zweige sich vervielfältigt und sich in Clans und dann in Stämme verwandelt haben.

Die Nation ist eine soziale Struktur, die durch den Nationalismus zusammengehalten wird; der Stamm ist eine soziale Struktur, die durch die Stammesgesellschaft zusammengehalten wird; die Familie ist eine soziale Struktur, die durch die Familienbande zusammengehalten wird; und die Nationen der Welt sind soziale Strukturen, die durch das Menschsein zusammengehalten werden. Das sind Fakten, die selbstverständlich sind. Dann gibt es die politische Struktur der Staaten, welche die politische Landkarte der Welt bilden. Aber warum verändert sich diese Landkarte der Welt vom einen Zeitalter zum anderen? Der Grund dafür ist der, dass die politische Struktur vielleicht mit der sozialen Struktur übereinstimmt, vielleicht aber auch nicht. Wenn es in einer Nation eine Deckungsgleichheit gibt, ist sie von Dauer und ändert sich nicht. Wenn die Veränderung unter Zwang erfolgt, durch Kolonisierung von außen oder durch einen Zusammenbruch im Inneren, taucht sie unter dem Zeichen des nationalen Kampfes, der nationalen Wiedererweckung oder der nationalen Einheit wieder auf. Wenn die politische Struktur mehr als eine Nation umfasst, wird ihre Landkarte dadurch zerrissen werden, dass jede der Nationen im Zeichen des Nationalismus ihre Unabhängigkeit erlangt. Die Landkarten der großen Reiche, die die Welt bisher erlebt hat, wurden also zerrissen, weil sie aus mehreren Nationen bestanden. Wenn sich jede Nation fanatisch an ihren Nationalismus klammert und nach Unabhängigkeit strebt, wird das politische Reich in Stücke gerissen, und die einzelnen Teile kehren zu ihren sozialen Ursprüngen zurück. Kristallklare Belege dafür finden sich überall in der Geschichte der Welt, wenn wir alle ihre Zeitalter Revue passieren lassen.

Aber warum bestanden diese Reiche aus verschiedenen Nationen? Die Antwort ist, dass der Staat nicht nur eine soziale Struktur wie die Familie, der Stamm oder die Nation ist, sondern vielmehr eine politische, aus mehreren Faktoren hervorgegangene Einheit, deren einfachster und vorrangigster Faktor der Nationalismus ist. Der Nationalstaat ist als einzige politische Form in Übereinstimmung mit der natürlichen sozialen Struktur. Er hat Bestand, wenn er nicht der Tyrannei eines anderen, stärkeren Nationalismus zum Opfer fällt und wenn seine politische Struktur, als Staat, nicht von seiner sozialen Struktur in Gestalt von Stämmen, Clans und Familien beeinflusst wird. Es ist schädlich für die politische Struktur, wenn sie der sozialen Familien-, Stammes- oder Sektenstruktur unterworfen wird und deren Wesensmerkmale übernimmt.

Religiöse, Ökonomische und militärische Faktoren tragen jedoch auch dazu bei, einen Staat zu bilden, der sich vom einfachen Staat unterscheidet, dem Nationalstaat.

Eine gemeinsame Religion, wirtschaftliche Erfordernisse oder militärische Eroberungen können zur Bildung eines Staates führen, der mehrere Nationalismen umfasst. Auf diese Weise bekommt die Welt in dem einen Zeitalter einen Staat oder ein Reich zu Gesicht, die sie in einem anderen Zeitalter wieder verschwinden sieht. Wenn der Geist des Nationalismus stärker wird als der Geist der Religion und zwischen verschiedenen Nationalismen, die beispielsweise durch eine gemeinsame Religion zusammengebracht wurden, Konflikte aufflammen, wird jede Nation unabhängig und gewinnt ihre soziale Struktur zurück. Dieses Reich verschwindet dann. Die Rolle der Religion kommt wieder zum Vorschein, wenn der Geist der Religion erneut stärker als der Geist des Nationalismus ist. In der Folge werden die verschiedenen Nationalismen unter dem Banner der Religion vereint, bis wieder der Nationalismus die Oberhand gewinnt und so weiter.

Alle Staaten, die aus unterschiedlichen Gründen aus mehreren Nationalismen zusammengesetzt sind – seien es religiöse, ökonomische, oder militärische Kräfte, oder von Menschen gemachte Ideologien -, werden so lange durch nationale Konflikte zerrissen werden, bis jeder Nationalismus unabhängig ist, d.h., der soziale Faktor wird zwangsläufig über den politischen Faktor triumphieren.

Trotz der politischen Faktoren, die die Einrichtung des Staates erforderlich machen, ist daher die Grundlage des Lebens der Einzelnen die Familie, der Stamm, dann die Nation, die sich zu guter Letzt über die ganze Menschheit erstreckt. Der essentielle Faktor ist der soziale Faktor. Er ist der beständige und permanente Faktor, nämlich der Nationalismus. Das Hauptgewicht sollte auf der sozialen Wirklichkeit und der Pflege der Familie liegen, um den integrierten, gut ausgebildeten Menschen hervorzubringen. Sorgfalt und Interesse sollten sodann dem Stamm als einem sozialen Schutzschild gelten sowie als einer natürlichen Schule der Sozialisierung, die den Menschen im nach-familiären Stadium weiter erzieht. Dann kommt die Nation. Der Einzelne lernt soziale Werte nur von der Familie oder vom Stamm, die eine natürliche, von keiner bestimmten Person organisierte Sozialstruktur bilden. Sich um die Familie zu kümmern, ist zum Wohle des Einzelnen, so wie es im Interesse der Familie, des Einzelnen und der Nation, d.h. des Nationalismus liegt, sich um den Stamm zu kümmern. Der soziale Faktor, also der nationale Faktor, ist die echte und dauerhafte Antriebskraft der Geschichte.

Die sozialen Bande menschlicher Gruppen zu missachten und ein politisches System zu etablieren, das im Widerspruch zur sozialen Wirklichkeit steht, schafft eine zeitlich begrenzte Struktur, die durch die Bewegung des sozialen Faktors dieser Gruppen zerstört werden wird, d.h., durch die nationale Bewegung einer jeden Nation.

Alle diese Realitäten sind dem Leben des Menschen eingeboren und sind keine rationalen Überlegungen. Jedes Individuum auf der Welt sollte sich dieser Realitäten bewusst sein und sich entsprechend verhalten, damit seine Handlungen der Mühe wert sind. Es ist notwendig, diese erwiesenen Realitäten zu kennen, um Verirrungen, Unordnung und Schäden im Leben der menschlichen Gruppen zu vermeiden, die das Resultat fehlenden Verständnisses für und mangelnder Achtung gegenüber diesen Prinzipien des menschlichen Lebens sind.

Muammar al-Gaddafi