DgB-Teil1: Die Klasse Das Instrument des Regierens ist das wichtigste politische Problem, mit dem menschliche Gemeinschaften konfrontiert sind. Sogar Konflikte innerhalb der Familie sind oft ein Resultat dieses Problems. Seit dem Entstehen der modernen Gesellschaften ist dieses Problem ein sehr ernstes geworden.

Das politische Klassensystem ist dasselbe wie das Parteien-, das Stammes- und das Sektensystem, d.h., eine Klasse dominiert die Gesellschaft auf dieselbe Weise, wie es eine Partei, ein Stamm oder eine Sekte tut. Die Klasse ist, wie die Partei, die Sekte und der Stamm, eine Gruppe von Leuten aus der Gesellschaft, die gemeinsame Interessen haben. Gemeinsame Interessen entstehen daraus, dass es eine Gruppe von Leuten gibt, die durch Blutsverwandtschaft, Glauben, Kultur, regionale Zugehörigkeit oder Lebensstandard miteinander verbunden sind. Klassen, Parteien, Sekten und Stämme entspringen auch ähnlichen Faktoren, die zu ähnlichen Ergebnissen führen, d.h., sie entstehen, weil Blutsverwandtschaft, Glaube, Lebensstandard, Kultur und regionale Zugehörigkeit eine gemeinsame Weitsicht hervorbringen und zwar zu dem Zweck, ein gemeinsames Ziel zu erreichen. So bildet sich in der Gestalt von Klassen, Parteien, Stämmen oder Sekten die Gesellschaftsstruktur heraus, aus der schließlich politische Vorstellungen werden, die darauf abzielen, die Weltsicht und die Zwecke dieser Gruppe zu realisieren. In allen Fällen ist das Volk weder die Klasse noch die Partei, der Stamm oder die Sekte; diese sind nicht mehr als ein Teil des Volkes und bilden eine Minderheit. Wenn eine Klasse, eine Partei, ein Stamm oder eine Sekte eine Gesellschaft dominiert, wird das gesamte System zur Diktatur. Eine Klassen- oder eine Stammeskoalition ist jedoch besser als eine Parteienkoalition, weil das Volk ursprünglich aus einer Gruppe von Stämmen bestand. Man findet selten Menschen, die keinem Stamm angehören, und alle Menschen gehören zu einer bestimmten Klasse. Aber weder eine bestimmte Partei noch mehrere Parteien umfassen das gesamte Volk, und deshalb stellt die Partei oder die Parteienkoalition, verglichen mit der Menge der Leute, die nicht Parteimitglied sind, eine Minderheit dar.

In einer echten Demokratie gibt es keine Entschuldigung dafür, dass eine Klasse andere Klassen ihres eigenen Vorteils wegen unterdrückt, keine Entschuldigung dafür, dass eine Partei der eigenen Interessen wegen andere Parteien unterdrückt, keine Entschuldigung dafür, dass ein Stamm die anderen Stämme seines eigenen Vorteils wegen unterdrückt, und keine Entschuldigung dafür, dass eine Sekte andere Sekten der eigenen Interessen wegen unterdrückt.

Solche Handlungsweisen zuzulassen bedeutet, die Logik der Demokratie aufzugeben und sich auf die Logik der Gewalt zu verlegen. Eine solche Handlungsweise ist diktatorisch, weil sie nicht im Interesse der gesamten Gesellschaft ist, die nicht nur aus einer Klasse, einem Stamm, einer Sekte oder den Mitgliedern einer Partei besteht. Es gibt keine Rechtfertigung für eine solche Handlungsweise. Die diktatorische Rechtfertigung ist die, dass die Gesellschaft tatsächlich aus verschiedenen Teilen besteht und sich einer dieser Teile an die Liquidierung der anderen Teile macht, um allein in den Besitz der Macht zu kommen. Diese Handlungsweise ist dann nicht im Interesse der gesamten Gesellschaft, sondern im Interesse einer bestimmten Klasse, eines bestimmten Stammes,
einer bestimmten Sekte oder einer bestimmten Partei, d.h, es ist im Interesse derjenigen, welche an die Stelle der Gesellschaft treten. Der Vorgang der Liquidierung richtet sich ursprünglich gegen die Mitglieder der Gesellschaft, die nicht zur Partei, zur Klasse, zum Stamm oder zur Sekte gehören, die oder der die Liquidierung unternimmt.

Die durch Parteienkämpfe zerrissene Gesellschaft ähnelt einer Gesellschaft, die durch Stammes- und Sektenkämpfe zerrissen ist.

Die Partei, die im Namen einer Klasse gebildet wird, wird automatisch zum Ersatz für diese Klasse und fährt in ihrem Tun fort, bis sie auch an die Stelle der ihr feindselig gegenüberstehenden Klasse tritt.

Jede Klasse, die das Erbe einer Gesellschaft antritt, erbt gleichzeitig deren charakteristische Eigenschaften. Das heißt, dass beispielweise die Arbeiterklasse, falls sie alle anderen Klassen unterdrückt, zur Erbin der Gesellschaft wird, das heißt, dass sie die materielle und die soziale Basis der Gesellschaft wird. Die Erbin trägt die Wesenszüge dessen, von dem sie erbt, auch wenn das vielleicht nicht sofort offensichtlich ist. Im Lauf der Zeit kommen die Attribute der anderen, eliminierten Klassen in den eigenen Reihen der Arbeiterklasse zum Vorschein. Und diejenigen, welche diese charakteristischen Wesenszüge besitzen, übernehmen die zu ihren Wesenszügen passenden Haltungen und Ansichten. Aus der Arbeiterklasse wird daher eine eigene Gesellschaft, die dieselben Widersprüche wie die alte Gesellschaft offenbart. Die materiellen und moralischen Standards der Mitglieder der Gesellschaft sind zuerst ganz unterschiedlich, aber dann tauchen die Gruppen und Fraktionen auf, die sich automatisch zu Klassen wie denen entwickeln, die eliminiert worden waren. Und so beginnt der Kampf um die Vorherrschaft innerhalb der Gesellschaft von neuem. Jede Gruppe von Menschen, dann jede Fraktion und schließlich jede neue Klasse versucht, das Instrument des Regierens zu werden.

Die materielle Basis der Gesellschaft ist nicht stabil, weil sie einen sozialen Aspekt hat. Das Instrument des Regierens der einzelnen materiellen Basis der Gesellschaft wird vielleicht eine Weile lang stabil sein, aber das wird sich ändern, sobald neue materielle und soziale Standards aus derselben einzelnen materiellen Basis hervorgehen. jede Gesellschaft mit Klassenkonflikten war in der Vergangenheit eine Einklassengesellschaft, aber wegen der unvermeidlichen Evolution sind aus dieser einen Klasse die nun widerstreitenden Klassen hervorgegangen.

Die Klasse, die sich die Besitztümer der anderen aneignet, um das Instrument des Regierens für ihre eigenen Interessen beizubehalten, wird feststellen, dass die materiellen Besitztümer innerhalb dieser Klasse mit sich gebracht haben, was materielle Besitztümer innerhalb der Gesellschaft insgesamt üblicherweise mit sich bringen.

Kurz gesagt, sind Versuche, die materielle Basis der Gesellschaft zu vereinheitlichen, um so das Problem der Regierung zu lösen oder den um des Vorteils einer Partei, einer Klasse, einer Sekte oder eines Stammes willen ausgetragenen Kämpfen ein Ende zu machen, genauso gescheitert wie die Bemühungen, die Massen dadurch zufriedenzustellen, dass man Repräsentanten wählt oder Plebiszite organisiert, um herauszufinden, was sie wollen. Mit diesen Bemühungen fortzufahren ist Zeitverschwendung und eine Verhöhnung des Volkes.

Muammar al-Gaddafi