Beide Seiten der Front: Beide Seiten der Front: 4. Westwärts: Vor dem Angriff - 4.1 Patrick Baab's Reise in die Ukraine: "Auf beiden Seiten der Front". 4.1. Lwiw: Willkommen in NATO-Land
4.1. Lwiw: Willkommen in NATO-Land
Damals, vor dem Krieg, war ich mit Austrian Airlines gekommen. Ein bequemer Flug am 23. September 2021 über Wien ins Herz Europas. Heute ist erschöpft, wer hier ankommt. Die Fluglinien wurden wegen des Krieges eingestellt. Lediglich Turkish Airlines bietet seit Kriegsbeginn noch Flüge von Berlin nach Lwiw an – über Istanbul, der Reisende ist nun neun Stunden oder länger unterwegs. Die Alternative ist eine Bahnfahrt über das polnische Poznán, auf diesem Weg sind es 16 Stunden. Wieder einmal, wie schon zu Zeiten der Sowjetunion, liegt Lemberg am Ende der Welt – damals hinter dem Eisernen Vorhang, heute am Rande der Todeszone.
Ein Flug, Jahrzehnte zurück, hinein in tödliche Gefahr: Am 5. September 1949 starten zwei Männer in einer Douglas C-47 in München. Die Maschine wird geflogen von einer tollkühnen ungarischen Besatzung, die mit einer entführten Passagiermaschine wenige Monate zuvor aus Budapest gekommen war. Mit einem Kampflied auf den Lippen springen zwei Kuriere ins Dunkel der Karpaten-Nacht. Sie landen auf einer Bergwiese in der Nähe von Lwow. Die CIA dringt erstmals in die Sowjetunion ein. (148)
Die Vorbereitungen hatten bereits im Frühjahr und Sommer begonnen. Verantwortlich dafür war Steve Tanner, damals ein junger Mitarbeiter der CIA-Operationsbasis München. Er kam aus dem Heeresnachrichtendienst, hatte gerade seinen Abschluss in Yale gemacht und wurde 1947 engagiert von Richard Helms, damals zuständig für Spionage in Mitteleuropa. In München bestand seine Aufgabe darin, Agenten anzuwerben, die hinter dem Eisernen Vorhang eingesetzt werden sollten. Fast jede wichtige Sowjetrepublik hatte damals eine Emigrantengruppe, die sich der CIA andiente. Einige der Männer, die Tanner ins Visier nahm, waren Osteuropäer, welche sich im Krieg auf die Seite der Deutschen geschlagen hatten. Unter ihnen waren, so Tanner, »Leute mit faschistischer Vergangenheit, die ihre weitere Karriere sichern wollten, indem sie sich den Amerikanern andienten«. Die Nichtrussen »hatten einen wilden Hass auf die Russen und standen automatisch auf unserer Seite«. (149)
Tanner hatte keinerlei Richtlinien aus Washington und schrieb sich die Leitlinien selbst: Eine Emigrantengruppe, die mit der CIA arbeiten wollte, musste in der Sowjetunion und nicht in einem Münchner Café gegründet worden sein. Sie musste Kontakte in ihrem Herkunftsland haben und durfte sich nicht durch Nazi-Kollaboration diskreditiert haben. Im Dezember 1948 glaubte Tanner, eine passende Gruppe von Ukrainern gefunden zu haben. Sie nannte sich »Hoher Rat für die Befreiung der Ukraine« (UHWR), und ihr Münchner Ableger hatte über Landkuriere Kontakt zur »Ukrainischen Widerstandsarmee« (UPA) in den Karpaten. Durch katholische Priester, geflohene Gefangene und Reisende erhielten sie Berichte aus der Ukraine. Anfang 1949 begannen die Vorbereitungen zur Einschleusung der Ukrainer auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs. Monate zuvor waren sie als Kuriere mit Botschaften auf Papierfetzen aus dem ukrainischen Untergrund aus den Karpaten gekommen. Diese Zettel galten als Beleg für eine entschlossene Widerstandsbewegung, die Informationen beschaffen und vor einem sowjetischen Angriff auf Westeuropa warnen konnte. Bei der CIA hegte man große Hoffnungen und glaubte, dass diese Bewegung Einfluss auf den Verlauf eines offenen Konflikts zwischen den USA und der Sowjetunion nehmen könnte.
Am 26. Juli 1949 segnete der Leiter der CIA-Sonderoperationen, General Willard G. Wyman, die Mission ab. Tanner sorgte für die Schulung der Gruppe in Morsecode und Waffengebrauch. Neun Monate lang wurden sie im Zielschießen und Fallschirmspringen ausgebildet. Ein serbisch-amerikanischer OSS-Veteran, der im Krieg mit dem Fallschirm über Jugoslawien abgesprungen war, brachte den beiden ukrainischen Kurieren bei, sie sollten beim Aufkommen auf dem Boden einen Salto rückwärts machen – obwohl sie einen ein Meter zwanzig langen Karabiner an die Seite geschnallt hatten. Tanner warnte jedoch vor überzogenen Erwartungen. Denn es dämmerte ihm, dass sie in den westukrainischen Wäldern kaum erfahren konnten, was Stalin plante. Aber vielleicht, so dachte er, könnten sie Papiere bekommen, Kleidungsstücke, Schuhe, Gebrauchsgegenstände aus dem sowjetischen Alltagsleben beschaffen, die benötigt wurden, um ein richtiges Spionagenetzwerk hinter den feindlichen Linien aufzubauen. Das war zwar wenig, aber Tanner versprach sich einen starken symbolischen Effekt: »Sie zeigten Stalin, dass wir nicht stillsitzen würden. Und das war wichtig, weil wir bis dahin überhaupt noch keine Operationen in seinem Land gemacht hatten.« (150)
Bei ihrer Landung wurden die Männer schon von Begrüßungskomitees des NKWD erwartet, und die Sowjets eliminierten die Agenten innerhalb kürzester Zeit. Dennoch löste die Operation in der CIA-Zentrale Euphorie aus. Dort plante Frank Wisner, der ehemalige Leiter des OSS-Büros (Office of Strategic Services) in Bukarest, weitere Männer einzuschleusen. Diese sollten organisierte Regimegegner rekrutieren, mithilfe der USA Widerstandsgruppen aufbauen, vor einem sowjetischen Militärschlag warnen, einen Bürgerkrieg initiieren und das Land »befreien«. Die CIA setzte Dutzende von Ukrainern auf dem Luft- und Landweg ab. Fast alle wurden festgenommen und getötet. Bis 1953 hatten die Sowjets den bewaffneten Widerstand in der Ukraine niedergeschlagen. Aber erst nach fünf Jahren solcher tödlichen Fehlschläge gab die CIA diese Methode auf. Frank Wisner ließ sich dennoch nicht beirren. Er initiierte weitere paramilitärische Abenteuer in ganz Osteuropa. Im Oktober 1949, vier Wochen nach dem ersten Flug in die Ukraine, versuchte er zusammen mit den Briten, Regimegegner per Schiff ins kommunistische Albanien einzuschleusen. Diejenigen, die es an Land schafften, wurden von der Geheimpolizei getötet. Die Briten, die diese Idee eigentlich vorangetrieben hatten, spotteten über den Dilettantismus der CIA. Sogar im Londoner Außenministerium beschwerte man sich über das »idiotische amerikanische Benehmen«(151).
Erst nach vielen Jahren wurde der CIA klar, dass Moskau von Anfang an über ihre Operationen im Bilde war. Die Trainingslager in Deutschland waren infiltriert. James J. Angleton, der für die Sicherheit dieser geheimen Operationen in der CIA-Zentrale verantwortlich war und die CIA vor Doppelagenten schützen sollte, hatte die Maßnahmen mit seinem engen Freund Kim Philby abgesprochen, der als Verbindungsmann des britischen Nachrichtendienstes zur CIA in Washington tätig und ein sowjetischer Spion war. Über ein Jahr lang gab Angleton die Koordinaten der Absprungzonen an Philby weiter – meist bei einem Whisky. Etwa 200 ausländische Agenten der CIA kamen so ums Leben. Als der US-Geheimdienst die Operationen nach vier Jahren einstellte, wurde Angleton zum Leiter der Spionageabwehr befördert. (152)
Die Hartnäckigkeit der US-Amerikaner bei ihren Spezialoperationen in der Ukraine steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der »Roll-Back«-Politik ab 1948. Diese Politik zielte darauf ab, die von der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg beherrschten Gebiete Osteuropas zu befreien. Die USA und Großbritannien wollten dafür Widerstandsbewegungen in den osteuropäischen Ländern durch Waffenlieferungen und Propaganda unterstützen sowie antikommunistische Exilanten einschmuggeln. Im Gegensatz zu den Briten beruhte das Selbstverständnis der US-Amerikaner dabei auf einem starken Sendungsbewusstsein. Wenn der Weltfriede durch die UdSSR bedroht sei, müsse man eben die Sowjetunion schwächen und aus ihrem Herrschaftsbereich zurückdrängen. In einem Policy Paper des National Security Council vom 30. März 1948 heißt es:
»Eine rein defensive Politik kann nicht als wirksames Mittel betrachtet werden, um der kommunistischen Expansion zu begegnen und den Kreml dazu zu bewegen, seine Aggressionspläne aufzugeben … Die Vereinigten Staaten müssen eine weltweite Gegenoffensive gegen den sowjetisch geführten Weltkommunismus organisieren … Die Vereinigten Staaten sollten ein abgestimmtes Programm zur Unterstützung von Widerstandsbewegungenim Untergrund in Ländern hinter dem Eisernen Vorhang, einschließlich der UdSSR, entwickeln und ausführen.«(153)
Dieses »Policy Paper« steht in Verbindung mit der Direktive des National Security Council NSC 10/2 vom 18. Juni 1948, durch die eine neue Abteilung der CIA für »Special Projects« geschaffen wurde. Sie bekam den Auftrag, in Friedenszeiten verdeckte Operationen durchzuführen:
»›Verdeckte Operationen‹ umfassen alle Aktivitäten, die von der Regierung gegen feindliche Staaten oder Gruppen oder zur Unterstützung von befreundeten Staaten oder Gruppen durchgeführt oder nanziert werden, aber so geplant und durchgeführt werden, dass keine Mitverantwortung einer US-Regierung beweisbar ist und dass bei einer Aufdeckung die US-Regierung glaubhaft jede Verantwortung von sich weisen kann. Insbesondere umfassen solche Operationen Propaganda; ökonomische Kriegsführung; präventive direkte Aktionen einschließlich Sabotage, Verhinderung von Anschlägen, Zerstörungen, Evakuierungsmaßnahmen; Subversion gegen feindliche Staaten, einschließlich der Unterstützung von Widerstandsbewegungen im Untergrund, Guerillakämpfern und Gruppen zur Befreiung von Flüchtlingen …« (154)
Im Jahr 1951 gab es weitere Versuche, Unabhängigkeitsbewegungen in der Ukraine, im Baltikum und im Kaukasus anzufachen. Damit sollte die Sowjetunion von innen heraus aufgespalten werden. Die Grundidee war immer gleich: Das Machtzentrum in Moskau sollte von den Rändern her destabilisiert werden. Die Ukraine spielte dabei eine wichtige Rolle.
Tatsächlich hatten die USA seit Ende der 1940er-Jahre strategische Interessen in der Ukraine. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes wurde der ukrainische nationalistische Widerstand in Form eines Partisanenkrieges fortgesetzt. Die Ukrainische Aufständische Armee (UPA), ein Ableger der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), sowie andere bewaffnete Gruppen, die während der Nazi-Herrschaft mit dem Regime kollaboriert hatten, wurden nun in den Aufmarsch des Kalten Krieges einbezogen. Das Committee of Subjugated Nations, das 1943 von den Nazis gegründet worden war, wurde 1946 als Antibolschewistischer Block der Nationen (ABN) unter US-Schirmherrschaft wieder etabliert. Damals arbeitete der US-Geheimdienst mit Mykola Lebed und der OUN zusammen. Lebed war die rechte Hand des ukrainischen Faschistenführers Stepan Bandera und setzte den Kampf für eine unabhängige Ukraine nun an der Seite der CIA fort.(155) Er war von der Gestapo in einem Trainingszentrum bei Krakau ausgebildet worden. Dort baute er die »Ukrainische Trainingseinheit« und die Sluzhba Bezpeky auf, den Auslandsgeheimdienst der OUN-B. Augenzeugenberichten zufolge befahl er dabei auch die Folter von Juden. Nach dem Krieg führte er auch im Dienst der US-Amerikaner Folterungen an Gefangenen durch.
Lebed sollte nun am Aufbau einer ukrainischen Exilregierung mitwirken. Insgesamt waren 75 Ukrainer als Führer von Widerstandszellen bei der CIA registriert. Die Überlebenden der von den Nazis gegründeten SS-Division Galizien, insgesamt 11 000 Mann, fanden in Großbritannien, Kanada und den USA eine neue Heimat – insbesondere mit Unterstützung des britischen Geheimdienstes.(156) Nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion gelang es der OUN/UPA, so Frank Wisner, Zehntausende Angehörige der Roten Armee und der sowjetischen Polizei zu eliminieren.(157) Die Vereinigten Staaten haben sich immer stark in der Ukraine engagiert, um die Sowjetunion zu destabilisieren.(158)
Das Projekt hatte den Codenamen »AERODYNAMIC«, und dabei ging es nicht nur um Einzeloperationen, wie ein Geheimdokument der CIA von 13. Juli 1953 zeigt: »Das Ziel von Projekt AERODYNAMIC ist es, den antisowjetischen ukrainischen Widerstand für die Zwecke eines kalten und eines heißen Krieges zu nutzen und auszubauen. Dabei werden Gruppen wie der Hohe Rat für die Befreiung der Ukraine und seine Untergrundarmee Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) genutzt, ebenso wie die Auslandsvertretung des Hohen Rates ZPUHVR in Westeuropa und den Vereinigten Staaten sowie andere Organisationen wie die OUN/B.«(159) Letztere wurde nach dem ersten Buchstaben von Bandera benannt, und auch die anderen Organisationen gehörten dem faschistischen Spektrum an. Das ZPUHVR war nichts anderes als ein Ableger von CIA und MI6. Neben der US-Operation AERODYNAMIC führten auch die Briten (Operation VALUABLE) und die Franzosen (Operation MINOS) Guerillaprojekte in der Ukraine durch.(160)
Das Projekt AERODYNAMIC lief auch unter der Regierung von Richard Nixon bis 1970 weiter. Allerdings zog man es zunehmend vor, statt in den Sümpfen um Odessa oder in kalten Lagerhallen in Kiew von Manhattan aus an der Propaganda-Front zu kämpfen. Die Tarnfirma trug den Namen Prolog Research and Publishing Associates, Inc., später Prolog, und der Deckname der Operation war AETENURE. 1967 wurden die Münchner Ableger von Prolog und der nationalistischen ukrainischen Exilzeitung Suchasnist verschmolzen. Zusätzlich unterstützte das Münchner Büro auch die »Ukrainische Gesellschaft für Auslandsstudien«. Unter dem Decknamen LCOUTBOUND infiltrierte die CIA 1959 die Weltjugendkonferenz in Wien, um Kontakt zu jungen Ukrainern herzustellen. In den 1960er Jahren, insbesondere während des Prager Frühlings 1968, versuchte die CIA, Westbesucher dazu zu gewinnen, Propaganda-Material einzuschmuggeln. Unter dem Decknamen Operation QRDYNAMIC lief AERODYNAMIC bis in die 1980er-Jahre als Teil des Soviet East Europe Covert Action Program weiter und dehnte seine Aktivitäten von München und New York auf London, Paris und Tokio aus. Zu dieser Zeit begann QRDYNAMIC auch mit Projekten des Finanzinvestors George Soros zusammenzuarbeiten, insbesondere mit Vertretern der Helsinki Watch Group in Kiew und Moskau. Dabei kooperierte die CIA auch mit der ukrainischen Gemeinde in Kanada und bezahlte Journalisten in Schweden, der Schweiz, Australien, Israel und Österreich für ihre Artikel.(161)
Alle diese Operationen blieben jedoch erfolglos. Der Grund für das Scheitern der »Befreiungspolitik« lag im grundlegenden Irrtum des Projekts: Man war überzeugt, dass die Bevölkerung in Stalins Einflussbereich förmlich nach einem Aufstand verlangte. Doch nach den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges war es der Mehrheit der Bevölkerung wichtiger, ihr nacktes Überleben zu sichern, anstatt sich in neue politische Abenteuer zu stürzen. Als es dann tatsächlich zu Protesten wie dem 17. Juni 1953 in der DDR, zu Revolten wie in Ungarn 1956, zu politischen Reformbestrebungen wie in der CSSR 1968 oder zu wilden Streiks wie in Polen 1970 kam, stellte sich heraus, dass die US-Amerikaner trotz vollmundiger Rhetorik sich nicht wirklich auf den Ernstfall vorbereitet hatten. Die USA sahen tatenlos zu, wie diese Freiheitsbewegungen mit Waffengewalt unterdrückt wurden. Sie scheuten die direkte Konfrontation.
Dies alles zeigt jedoch: Die CIA war im Kalten Krieg vier Jahrzehnte lang intensiv mit Untergrundarbeit in der Ukraine beschäftigt. Mit dem Beginn der Ära Gorbatschow war die große Zeit von QRDYNAMIC allerdings vorbei. Ein harter Schlag für die CIA: Sie ist eben von ihrer Gründung an nicht einfach ein Geheimdienst gewesen; sie hatte eine Mission. Sie befand sich auf einem »Kreuzzug«, (162) und für Kreuzritter ist es das Schlimmste, wenn kein Feind mehr da ist. Diese Situation trat mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein. Das Feindbild war weg, und die CIA setzte alles daran, ein neues zu schaffen. Es folgte der »Krieg gegen den Terror«, bevor sich nach der Jahrtausendwende das Interesse wieder stärker auf die Ukraine richtete. Theoretische Grundlagen bildeten die Wolfowitz-Doktrin, die besagte, dass es in Zukunft nur noch eine Weltmacht geben solle, sowie die Überlegungen von Zbigniew Brzeziński. In seinem Buch Die einzige Weltmacht von 1997 plädierte er dafür, die NATO schrittweise nach Osten zu erweitern, die Ukraine klar und unmissverständlich aus der russischen Einflusszone herauszulösen, Russland selbst zu einem »eurasischen Außenseiter« zu machen und es in drei separate Republiken aufzuteilen.(163)
Als 1994 der Nordatlantikrat beschloss, Polen, Ungarn und Tschechien in die NATO aufzunehmen, wurde die Ukraine der erste GUS-Staat, der sich der »Partnerschaft für den Frieden« anschloss. Dies war ein neu geschaffener Warteraum für künftige NATO-Mitgliedschaften. Zu diesem Zeitpunkt erkundeten Ölfirmen bereits die Möglichkeiten rund um das Schwarze Meer.(164) Nach der Orangenen Revolution 2004 versicherten die USA der Regierung in Kiew ihre Unterstützung bei transatlantischen Bestrebungen.(165) Im Jahr 2006 wurde bekannt, dass NATO-Instrukteure ukrainische Neonazis der Organisation UNA-UNSO in Estland in Häuserkampf- und Sabotage-Techniken ausbildeten und so den Aufbau einer paramilitärischen »Stay-Behind«-Geheimtruppe betrieben. Gleichzeitig absolvierten ukrainische Offiziere ihre Ausbildung bereits am NATO Defense College. Dies war die Zeit, in der die NATO de facto »die Ukraine annektierte«(166).
Inzwischen wurden in Washington Pläne entworfen, wie in schwachen Staaten präventiv eingegri en und eine »Markt-Demokratie« etabliert werden kann. Teil des Drehbuchs war es, diese Staaten einer »geteilten Souveränität« zwischen »anerkannten nationalen politischen Autoritäten und einem externen Akteur« zu
unterwerfen.(167) Im Kern handelt es sich dabei um eine spezifische Politik des räuberischen Neoliberalismus, bei der Demokratieförderung, Wirtschaftskrieg und die Anwendung militärischer Gewalt miteinander verbunden sind.(168) Die Ukraine stand dabei ganz oben auf der Liste. Umgesetzt wurde diese begrenzte Souveränität in Form einer EU-Assoziation und der Östlichen Partnerschaft. Gemäß dem Vertrag von Lissabon, der 2007 beschlossen und 2009 in Kraft trat, sind die angeschlossenen Staaten verpflichtet, ihre Wirtschaft zu öffnen und ihre Sicherheitspolitik an die der NATO anzugleichen.(169) Diese inhärente sicherheitspolitische Dynamik führte dazu, dass die EU zu einem Treiber eines neuen Kalten Krieges wurde.
Gemeinsam mit der NATO-Osterweiterung wurde dieser Prozess zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Indem Russland ausgeschlossen blieb und weiter als Feind behandelt wurde, entwickelte sich Moskau genau in diese Richtung. Die NATO übernahm eine ähnliche Aufgabe wie zuvor: Russland einzudämmen. Im Ergebnis wollte die US-Regierung eine NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine mehr als die Ukraine selbst.(170)
Als auf dem NATO-Gipfel in Bukarest im Jahr 2008 der Ukraine und Georgien die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt wurde, geriet das »Grenzland« noch tiefer in eine Zerreißprobe. Das Land bestand aus zwei ethnischen Hauptformationen, der russischen und der ukrainischen. Daraus einen Nationalstaat zu formen, wäre ohnehin eine gigantische Aufgabe gewesen. Der Versuch, die geopolitische Ausrichtung zu ändern, führte letztendlich zu einer Spaltung und möglicherweise sogar zur Zerstörung des Landes.(171) Doch dies schien die Befürworter einer NATO-Integration nicht zu beunruhigen. Unterstaatssekretärin Victoria Nuland gab in einer Rede am 13. Dezember 2013 vor der US-Ukraine-Stiftung damit an, dass die Vereinigten Staaten seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 insgesamt fünf Milliarden Dollar für politischen Einfluss investiert haben. In einem unverschlüsselten Telefonat propagierte sie einen Regimewechsel in Kiew und lieferte damit Wladimir Putin einen willkommenen Vorwand für die Besetzung und – nach einem Referendum – Eingliederung der Krim in die Russische Föderation. Die Proteste auf dem Maidan im Winter 2013/14 waren dann die willkommene Gelegenheit für einen Putsch.(172)
Am Wochenende des 13. und 14. April 2014, kurz nach dem mit westlicher Hilfe erzwungenen Regierungswechsel, weilte CIA-Direktor John Brennan in Kiew. Ihm folgten Dutzende CIA-Berater. Zusätzlich wurden 400 Söldner der Sicherheitsfirma Academi, ehemals Blackwater, für verdeckte Operationen von CIA und Pentagon eingeflogen. Der Fokus lag auf geheimdienstlicher Zusammenarbeit gegen Russland. Kurz darauf begann die sogenannte »Anti-Terror-Operation« gegen die Separatisten. (173) Aus der Korrespondenz vom 5. und 6. April zwischen Phillip Karber, dem damaligen Präsidenten der Denkfabrik Potomac Foundation in Washington, die das Regime in Kiew beriet, und General Wesley Clark, einem ehemaligen NATO-Kommandeur, geht später hervor, dass die NATO die Kräfte Kiews bereits vor den ersten Besetzungen im Donbass beraten hatte.(174) Das westliche Bündnis war also in die Kiewer Regimewechsel-Operation und die Konfrontation mit Russland von Anfang an eingebunden und sogar eine treibende Kraft.
Nach Angaben des U. S. Congressional Research Service haben die USA die Ukraine von 1991 bis 2014 mit vier Milliarden Dollar militärisch unterstützt. 2014 kamen noch einmal 2,5 Milliarden Dollar dazu sowie eine Milliarde aus dem NATO-Treuhandfonds. Doch das ist noch nicht alles. Großbritannien hat mit Kiew eine Reihe von Militärabkommen geschlossen, die unter anderem eine Investition von 1,7 Milliarden Pfund in die Stärkung der ukrainischen Marine vorsahen. Es ging um die Bewaffnung ukrainischer Schiffe mit britischen Raketen, die gemeinsame Herstellung von acht schnellen Raketenwerfern, den Bau von Marinestützpunkten am Schwarzen und am Asowschen Meer.(175) Im Jahr 2020 kam ein Zehn-Milliarden-Dollar-Plan von Erik Prince, dem Gründer von Blackwater, hinzu. Er bestand darin, durch eine Partnerschaft zwischen seinem Unternehmen Lancaster 6 und dem wichtigsten ukrainischen Geheimdienst, der wiederum von der CIA kontrolliert wird, eine Privatarmee in der Ukraine aufzubauen. (176) Dabei arbeitet Blackwater mit dem faschistischen Asow-Bataillon eng zusammen.(177) Ganz so eigennützig war die Militärhilfe jedoch nicht: Am 7. Juli 2014 konfiszierte Washington in einem weiteren Akt des Wirtschaftskrieges die ukrainischen Goldreserven und verfrachtete 40 versiegelte Boxen per Flugzeug in die USA. Insgesamt beläuft sich der inzwischen transferierte Betrag auf zwölf Milliarden Dollar.(178)
Daran verschwendete ich zunächst keinen Gedanken, als ich am Gepäckband des Flughafens von Lwiw auf meinen Koffer wartete, beim Zoll den Grenzbeamten meinen Ausweis vorlegte und durchgewinkt wurde. Doch als sich die Schiebetür zur Eingangshalle des Flughafens öffnete, fiel mir als Erstes dieses Schild ins Auge. Ein ukrainischer Soldat stand da und hielt eine Papptafel hoch. Darauf stand: »Welcome NATO«. Offenbar war dies das Empfangskomitee für eine Gruppe Militärberater. Wofür sie gebraucht werden, das weiß meine Freundin Olga. Sie kommt aus Chust und lebt schon lange in Deutschland. Ihre erste Heimat ist ein sensibles Thema für sie, und sie spricht ungern über Galizien und die Ukraine. Sie sieht, wie ihr Land durch einen sinnlosen Krieg zerrissen wird und in einem Sumpf von Korruption versinkt. Dieser Konflikt hat auch ihre Familie gespalten. Olga ist weggegangen und hat ein neues Leben in Süddeutschland angefangen. Ihr Vater hingegen hat den Weg des ukrainischen Nationalismus eingeschlagen. Er hat sich der Armee angeschlossen und arbeitet im äußersten Westen des Landes eng mit den US-Militärberatern zusammen.
Die Recherche führt zum Combat Training Center in Jaworiw, 60 Kilometer westlich von Lwiw an der Grenze zu Polen. Dort haben US-amerikanische Spezialeinheiten und Ausbilder der Nationalgarde von 2015 an bis zum Beginn des Jahres 2022 mehr als 27 000 ukrainische Soldaten ausgebildet. Das haben Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums der New York Times bestätigt.(179) Auch andere NATO-Staaten waren an diesen Aktivitäten beteiligt. In den vergangenen sieben Jahren haben somit Spezialkräfte des westlichen Bündnisses tausende ukrainische Soldaten auf NATO-Standard gebracht und sukzessive bewaffnet.
Seit 2014 entfalten mehrere NATO-Staaten, allen voran die USA, Kanada und Großbritannien, eine Vielzahl militärischer Aktivitäten in der Ukraine. Dazu gehören gemeinsame Boden-, Luft- und Seemanöver. Im Jahr 2021 fanden mindestens zehn solcher Aktivitäten statt, und weitere waren für 2022 geplant. 2017 errichtete die US- Navy einen Militärhafen in Otschakow westlich der Krim – zusätzlich zum Flugplatz, den US-Militärs zusammen mit den Ukrainern bereits betrieben.(180) Am 24. März verabschiedete die Ukraine eine Militärstrategie, die die Regierung dazu verpflichtet, alle notwendigen Maßnahmen zur Wiedereingliederung der Krim und der Republiken Donezk und Luhansk zu ergreifen. Am 10. November unterzeichneten die USA und die Ukraine eine Charta zur strategischen Partnerschaft, in der es hieß, dass »die USA nie die versuchte Annexion der Krim durch Russland akzeptieren« werden.(181)
Damit ist die Ukraine schrittweise de facto zu einem NATO-Partner geworden, ohne dass dies auf dem Papier offiziell gemacht wurde. Dies verweist auf ein geheimes Netzwerk von Kommandos und Agenten, die Waffen, geheimdienstliche Informationen und Training für die ukrainischen Truppen bereitstellen. Ein Großteil dieser Aktivitäten findet auf Militärstützpunkten in Deutschland, Frankreich und Großbritannien statt. Aber auch nach Kriegsbeginn operieren CIA-Agenten, vor allem in Kiew. Zusätzlich sind Kommandos aus Großbritannien, Frankreich, Kanada und Litauen in der Ukraine aktiv. Die Zehnte Special Forces Group der US-Armee, die auch an der Ausbildung in Jaworiw beteiligt war, hat einen Planungsstab in Deutschland aufgebaut, an dem mittlerweile 20 Nationen beteiligt sind. (182)
Fasst man das alles zusammen, so wird deutlich: Die Ukraine wurde vonseiten des Westens darauf vorbereitet, einen Stellvertreterkrieg mit Russland zu führen. Dieser Krieg, bei dem die NATO aus dem Hintergrund unterstützt, wird ankiert von einem Wirtschaftskrieg und einer Propaganda-Offensive gegen Russland. Gleichzeitig sollte der Raketenschild der USA in Rumänien und Polen die Umzingelung Russlands abschließen und durch Raketen ohne Vorwarnzeiten die Erstschlagfähigkeit gewährleisten. Diese Maßnahmen entsprachen dem Streben der USA nach »Full-spectrum dominance«. US-Kriegsminister Lloyd Austin formulierte das Ziel, Russland so zu schwächen, dass das Land sich davon nicht mehr erholen kann. (183)
Doch die verdeckten Bemühungen des Westens, die Ukraine zu einem Frontstaat für eigene Interessen auszubauen, gehen noch weiter. Ausländische Kombattanten, die zum Teil freiwillig ins Land kamen oder von Sicherheitsfirmen angeheuert wurden, sollten die ukrainischen Streitkräfte verstärken. Ein Teil von ihnen wurde ebenfalls in Jaworiw ausgebildet. US-Militärberater organisierten sie in einer Art Fremdenlegion, die bis zu 2500 Söldner umfassen sollte. Doch die Hoffnung, damit den Krieg drehen zu können, erfüllte sich nicht. Russland war natürlich auch über diese Aktivitäten informiert. In der Nacht zum 13. März 2022 haben mehrere russische Marschflugkörper den Truppenübungsplatz Jaworiw fast völlig zerstört. Augenzeugen sprechen von einer ungeheuren Feuerkraft. Ein 46-jähriger ehemaliger Polizist aus Dallas berichtete dem Sender CBS, dass seine Einheit beim Angriff auf Jaworiw die Hälfte ihrer Männer verloren habe.(184)
Auch die Aktionen westlicher Geheimdienste im Untergrund dauern an. Jacques Baud, ehemaliger Oberst des Schweizer Generalstabs und ehemaliger Angehöriger des strategischen Nachrichtendienstes, der ein guter Kenner der Verhältnisse in der Ukraine ist, vermutet, dass die Explosion Anfang August 2022 auf dem russischen Luftwaffenstützpunkt Saki auf der Krim eine Operation des ukrainischen Geheimdienstes war, unterstützt vom Westen:
»Die Vorfälle auf der Krim zeigen indirekt, dass es den vom Westen im Februar behaupteten Volkswiderstand nicht gibt. Es handelt sich sehr wahrscheinlich um das Werk ukrainischer und westlicher (wahrscheinlich britischer) Geheimagenten.«(185)
Er spricht von Terroroperationen hinter den feindlichen Linien, die sich auch gegen prorussische Persönlichkeiten richten, und rechnet auch die Ermordung der Journalistin Darja Dugina am 21. August 2022 in Moskau dazu. Jacques Baud widerspricht auch der offiziellen westlichen Version, dass russische Truppen für das Massaker in Butscha Anfang April 2022 verantwortlich seien. Stattdessen betrachtet er es als Ablenkungsmanöver: »Die ukrainischen Verbrechen wurden allmählich in den sozialen Netzwerken aufgedeckt, und am 27. März befürchtete Selenskyj, dass dies die Unterstützung des Westens gefährden würde. Da kam das Massaker von Butscha am 3. April, dessen Umstände nach wie vor unklar sind, gerade recht. Großbritannien, das damals den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat innehatte, lehnte dreimal die russische Bitte ab, eine internationale Untersuchungskommission zu den Verbrechen von Butscha einzusetzen. Der ukrainische sozialistische Abgeordnete Ilja Kywa enthüllte auf Telegram, dass die Tragödie von Butscha von Spezialkräften des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 geplant und vom SBU durchgeführt wurde.« Damit hat auch der ukrainische Geheimdienst nach dem Abzug der Russen aus Butscha Kollaborateure gefoltert und ermordet. Die Aufnahmen des Satellitenbetreibers Maxar, einem Partner der US-Regierung, die angeblich Leichen auf den Straßen zeigen, weisen eine um die Hälfte reduzierte Datenrate auf , was den Verdacht nährt, dass auf diese Weise eine Manipulation verschleiert wurde.(186) Dies entlastet umgekehrt aber die russische Seite nicht von schweren Kriegsverbrechen. (187)
Unabhängig von den Morden in Butscha gibt es also eine Kontinuität geheimdienstlicher Interventionen des Westens in der Ukraine seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Dabei sieht der Militäranalyst Jacques Baud das grundsätzliche Problem darin, dass sowohl bei den Ukrainern als auch im Westen ein ganzheitlicher Konfliktansatz fehle. Beide hätten operative Kunst durch Brutalität ersetzt. Wenn diese Einschätzung richtig ist, betreiben westliche Geheimdienste die Verlängerung des Abschlachtens in der Ukraine und täuschen darüber vorsätzlich die Öffentlichkeit.
Dazu passt, dass die Vereinigten Staaten in der Ukraine ein Trainingsprogramm zur Kriegsführung im Untergrund organisiert haben, das faktisch eine Neuauflage der Stay-Behind-Strukturen des Kalten Krieges darstellt. Gemäß dem »Resistance Operating Concept« sollen hinter den feindlichen Linien militärische und zivile Ressourcen mobilisiert werden, um Sabotageakte und Anschläge durchzuführen: »Techniken der Guerrilla-Kriegsführung schließen traditionell Raubüberfälle, Angriffe aus dem Hinterhalt, Sabotage, Bedrohungstechniken ein, um den Bewegungsspielraum des Feindes zu begrenzen, seine Moral zu untergraben und seine materielle Stärke zu verringern.«(188) Dies legt nahe, dass es bei diesen Maßnahmen nicht um westliche Werte oder die Freiheit der Ukraine geht, sondern vielmehr darum, Russland auf ukrainischem Boden zu destabilisieren.
Dazu passt auch, dass die Vereinigten Staaten in der Ukraine Bio-Labore betreiben. Staatssekretärin Victoria Nuland räumte am 8. März 2022 im US-Senat ein, dass die USA »biologische Forschungseinrichtungen« in der Ukraine aufgebaut haben, und warnte vor der Gefahr, dass sie in die Hände der Russen fallen könnten. Interne Unterlagen zeigen, dass in diesen Einrichtungen Experimente mit Kulturen von Pest, Milzbrand, Tularämie und Cholera durchgeführt wurden. Da auf US-Seite weder das Gesundheitsministerium noch die Verbraucherschutzbehörde diese Einrichtungen finanzieren, können diese Labore als militärische Objekte angesehen werden. Sie laufen unter dem Schirm der sogenannten »Agentur für die Reduzierung von Verteidigungsbedrohungen« (DTRA). Das Budget für das laufende Programm CBEP beträgt 2,1 Milliarden Dollar. Nach Angaben des Pentagons handelte es sich ursprünglich um 46 Einrichtungen, darunter das Forschungszentrum für Seuchenbekämpfung I. I. Metschnikow in Odessa und die Einrichtung für krankheitserregende Mikroorganismen im Charkiw-Gebiet. Nach Recherchen der bulgarischen Journalistin Dilyana Gaytandzhiewa führte das Pentagon biologische Experimente mit potenziell tödlichem Ausgang an 4400 Soldaten in der Ukraine und 1000 Soldaten in Georgien durch. 2016 starben in Charkiw 20 Soldaten an der Schweinegrippe, weitere 200 wurden ins Krankenhaus eingeliefert. Dies deutet auf Forschungen zur Entwicklung rassespezifischer Biowaffen hin.(189)
Auch der ukrainische Journalist Dmitrij Wasilez sieht Anhaltspunkte für solche Forschungen. Bei seinen Recherchen stieß er zunächst auf 15 Biowaffenlabore, unter anderem in Lwiw, Charkiw, Kiew und Odessa: »Ein Biowaffenlabor der USA befand sich in Kiew direkt vor meiner Haustür, die Adresse war Donezker Str. 30. Die Hauptaufgabe war, Übertragungswege von gefährlichen Erregern zu untersuchen. Das heißt, sie haben den Einsatz solcher Erreger als biologische Waffe erforscht, denn es ging darum, die Verbreitungswege zu verbessern, um die maximale Wirkung einer solchen biologischen Waffe zu erreichen. 2004, während der Präsidentschaft von Juschtschenko, wurde dem Pentagon erlaubt, solche Biolabore zu errichten. Faktisch haben die westlichen Länder damit eine Infrastruktur für Biowaffen-Angriffe aufgebaut. Dort sammeln sie genetisches Material, das genetisch nah bei den Russen liegt, und bauen Gendatenbanken auf. Es ist klar, dass es hier um nichts Gutes für Russen und Weißrussen geht.«(190) Damit steht er nicht allein. Das russische Verteidigungsministerium listet die Biowaffenlabore in der Ukraine auf, legt ihre Finanzierung offen und sieht darin den Versuch, »eine neue Generation hochwirksamer biologischer Waffen zu schaffen, die gegen Russland, aber auch gegen Iran und China gerichtet sind«.(191) Damit werde die Genfer Konvention zum Verbot von Biowaffen von 1972 umgangen. Ziel sei es, die Immunabwehr von Menschen bestimmter Ethnien wie Russen zu schwächen und die Möglichkeit staatlicher Infektionsbekämpfung zu reduzieren, um diese Länder bei künstlich ausgelösten Seuchenausbrüchen von den Medikamenten westlicher Pharmakonzerne abhängig zu machen oder gar eine gezielte Reduktion der Bevölkerung durch Epidemien zu ermöglichen. (192)
Seit dem Putsch auf dem Maidan 2014 registriert Moskau eine zunehmende antirussische Haltung der Regierung in Kiew, ein Prozess, der von den Vereinigten Staaten schon vor dem Krieg mit militärischer Ausbildung und Bewa nung unterstützt wird. Daneben werden ukrainische Spezialkräfte seit 2015 auf einer geheimen Militärbasis im südlichen Teil der USA trainiert.(193) Auch die Briten trainieren schon lange ukrainische Truppen. Außerdem haben die Royal Marines, so Generalleutnant Robert Magowan, 350 Spezialkräfte bei »hochriskanten geheimen Operationen« in der Ukraine im Einsatz. Damit bestätigte er eine bereits vorher publizierte Information des Kremls.(194)
Doch dies ist nur das Ergebnis einer längeren Entwicklung. Dabei arbeiteten die USA mit rechtsextremen Gruppen und Neonazis in der Ukraine zusammen, mit dem Ziel, einen demokratisch gewählten, aber korrupten Präsidenten wie Wiktor Janukowytsch zu stürzen. Janukowytschs Wahl wurde im Jahr 2010 von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit ( OSZE) bestätigt. Die USA unterstützten aktiv die Bildung einer antirussischen Regierung, die von rechtsextremen Gruppen beein usst war. Als sich die russischstämmigen Volksgruppen gegen diesen Putsch auflehnten, startete die Regierung in Kiew mit Unterstützung der USA einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung im Donbass. Seit 2014 wurden dabei mindestens 14 000 Menschen getötet. (195) Der Krieg in der Ukraine begann also nicht erst im Februar 2022, sondern entwickelte sich aus einem Bürgerkrieg, der von der Weltöffentlichkeit lange Zeit ignoriert wurde. In diesen Krieg ist Moskau eingetreten und hat damit einen Bürgerkrieg völkerrechtswidrig internationalisiert. Diese Vorgeschichte gehört zwingend zu einem Gesamtbild. In den westlichen Medien wird dieser Kontext ausgeblendet, genauso wie die NATO-Osterweiterung, die Ablehnung der russischen Vertragsentwürfe aus dem Dezember 2021, die an NATO und USA gescheiterten Bemühungen um eine europäische Sicherheitsarchitektur und die Weigerung Kiews, das Minsker Abkommen umzusetzen.
Heute ist Lemberg kein touristisches Ziel mehr, sondern vielmehr eine Wartehalle für Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet oder ein Umschlagplatz für Waffenlieferungen aus NATO-Ländern, die dennoch für sich in Anspruch nehmen, nicht am Krieg beteiligt zu sein. Die Reise nach Lwiw ist eine Reise ins Herz Europas und doch eine Fahrt ins Abseits. Ich komme an in einer Stadt hinter der Front. Früher waren Reisende neugierig auf das, was von der Pracht des Fin de Siècle in unsere Gegenwart hinübergerettet wurde, eine Zeit, die die sowjetische Großstadt überstanden hat. Sie suchten, wie Karl Schlögel es ausdrückte, nach dem, »was von einer Stadt bleiben konnte, die zwischen die Fronten des europäischen Bürgerkrieges geraten war«.(196) Heute handelt es sich nicht um einen europäischen Bürgerkrieg, auch nicht, wie eine internationale Zeitschrift titelte, um einen »Krieg gegen Europa«(197). Es handelt sich vielmehr um einen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den Vereinigten Staaten, auf den sich beide Seiten jahrelang vorbereitet haben.
Beide Seiten lehnen es ab, aus den Erfahrungen des Vietnamkrieges zu lernen, wo das Primat militärischer Lösungen, eine weiträumige Zerstörung des Landes und ein hoher Blutzoll in eine politische Niederlage geführt haben, die die Grenzen militärischer Mittel deutlich machte. Nach wie vor ziehen insbesondere die Vereinigten Staaten militärische Lösungen vor, um ihre strategischen Interessen durchzusetzen. Es war George H. W. Bush, der 1991 als US-Präsident den Irak angriff , nicht nur, um Kuwait zu retten, sondern auch um zu demonstrieren, dass die Vereinigten Staaten Kriege zu vertretbaren Kosten gewinnen können und somit das Vietnam-Trauma endgültig überwinden: »By God, we’ve kicked the Vietnam Syndrome once and for all.«(198) Die politische Elite der Vereinigten Staaten hat aus dem Vietnamkrieg nicht die Lehre gezogen, es mit Diplomatie zu versuchen. Stattdessen strebt sie danach, Soldaten, wo immer möglich, durch Technik zu ersetzen und Taktiken zu entwickeln, um die kriegerische Phase von außenpolitischen Unternehmungen kurzzuhalten. Deren Ziel ist es, Unabhängigkeitsbewegungen zu neutralisieren, die den US-amerikanischen Hegemonialanspruch herausfordern könnten. Diese Politik kann als Wolfowitz-Doktrin beschrieben werden: Neben den USA darf es keine weitere Supermacht geben. Sie führte zu einer Reihe außenpolitischer Desaster beim Versuch, Regimewechsel und Nation-Building militärisch durchzusetzen, wie im Irakkrieg 2003, im Afghanistan-Krieg 2001 bis 2021 und in Libyen 2011. Der Stellvertreterkrieg in der Ukraine ist ein weiteres Beispiel für das außenpolitische Scheitern der Neocons – und das zu einem hohen Preis, da Europa an den Rand einer nuklearen Katastrophe gebracht wurde. All dies wollen die politischen Eliten in Deutschland nicht hören, aber die US-amerikanischen Neokonservativen tragen Mitverantwortung für den Ukraine-Krieg. (199) Alles läuft darauf hinaus, die Spannungen in der Ukraine maximal zu eskalieren, den Krieg zu verlängern, große Teile des Landes zu zerstören und die Zahl der Toten steigen zu lassen, um einen geopolitischen Vorteil zu erlangen und den Preis für Russland nach oben zu treiben.
In dieser erweiterten Perspektive geht es darum, Moskau zu schwächen und US-amerikanischen Hegemonialinteressen nachhaltig unterzuordnen. Ohne den russischen Angriff auf die Ukraine wäre eine Verschärfung der Sanktionen und des Wirtschaftskrieges nicht möglich gewesen. Diese Sanktionen gegen die russische Zentralbank und russische Produkte wie Gas und Öl schaden auch dem Westen. Die USA haben laut Joe Lauria, Chefredakteur von Consortium News, mithilfe der ukrainischen Regierung Moskau in eine Zwickmühle gebracht: »Ich denke, dass die USA Russland eine Falle gestellt haben, in die es hineingetappt ist, nämlich eine Offensive im Donbass anzuzetteln. Russland musste sich entscheiden, ob es eingreifen oder die ethnischen Russen der ukrainischen Regierung überlassen sollte.« (200) Auch Robert Wade, Professor an der London School of Economics, und der Militäranalyst Jacques Baud betonen, dass »die Vereinigten Staaten seit Langem einen Weg gesucht haben, einen russischen Angriff auf die Ukraine zu provozieren … Aber die Umsetzung ist mehr eine Frage des Glaubens und der Trugbilder als eine der Strategie.« (201)
Fälle dieser Art sind in der US-Außenpolitik nicht neu. Bereits in Afghanistan hat sich diese Strategie bewährt. In einem Interview mit der Zeitschrift Le Nouvel Observateur erklärte der langjährige US- Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński, dass die geheime Waffenhilfe der CIA für die antikommunistischen Mudschaheddin schon vor dem sowjetischen Einmarsch am 24. Dezember 1979 begonnen habe. Bereits am 3. Juli 1979 habe Präsident Jimmy Carter eine entsprechende Direktive unterschrieben. Damit habe man zwar die sowjetische Intervention nicht herbeigeführt, aber man habe so die Wahrscheinlichkeit beträchtlich erhöht: »Diese Operation war eine ausgezeichnete Idee. Sie hat dazu geführt, die Sowjets in die afghanische Falle laufen zu lassen.«(202)
Der Verdacht liegt nahe, dass in der Ukraine ein sehr erfolgreiches geheimdienstliches Manöver wiederholt wurde. Das Ganze soll nebenbei auch eine Warnung an China sein: Jeder, der versucht, den Status quo zu seinen Gunsten zu verändern, muss damit rechnen, dass Washington ebenfalls militärische Maßnahmen ergreift. Die diplomatische Strategie der von den USA geführten NATO lief schon vor 2022 eher darauf hinaus, einen Krieg herbeizuführen, anstatt einen Krieg zu vermeiden, um gegen den Willen von Russland und China eine fragile unipolare geopolitische Ordnung aufrechtzuerhalten. Mit ihren Umsturzversuchen in der Ukraine haben die Vereinigten Staaten in ein Wespennest gestochen und die Welt an den Rand eines Atomkrieges gebracht. Auch in der Ukraine spielen Thinktanks in Washington, US-amerikanische Waffenlobbyisten und hochrangige Bürokraten im außenpolitischen Establishment ein gefährliches Spiel – nicht für sich selbst, sondern für andere. Die komplexen ethnischen, kulturellen und politischen Entwicklungen zwischen Donezk -Becken und den Karpaten verschwinden dabei hinter wohlklingenden Phrasen wie »Regimewechsel«, »humanitärer Intervention« oder »Selbstbestimmungsrecht der Völker«. Dazu haben die Vereinigten Staaten offen und verdeckt mit oppositionellen Gruppen kooperiert. Unter den Washingtoner Waffenlobbyisten knallten die Sektkorken: Die zu erwartende Aufrüstung der Ukraine versprach gute Geschäfte.(203)
Es ist nicht das erste Mal, dass insbesondere die US-Geheimdienste in der Ukraine auf dem schmalen Grat zwischen begrenzter Regime-Change-Operation und einem nuklearen Desaster balancieren. Dies mag den politischen Eliten in Warschau, Tallinn oder Riga nützen, die aus guten geografischen und historischen Gründen Moskau zutiefst misstrauen und den großen Bruder USA vor ihren Karren spannen wollen. Aber es hat dafür gesorgt, dass die russischen Atomraketen wieder stärker auf Washington, Berlin und London zielen als auf Islamabad oder Peking. All dies fehlt in der Berichterstattung der Leitmedien, von der ersten Phase der Invasion bis heute. Denn die kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Medien in Europa und den USA, vor allem aber in Deutschland, stützen sich fast ausschließlich auf US-Beamte, regierungsamtliche Stellen oder ukrainische Vertreter. Die Öffentlichkeit hat also kein umfassendes Lagebild. Dabei wird ein wichtiger Grundsatz des Journalismus ausgeblendet: Auch die andere Seite muss gehört werden. Dazu wäre es zwingend, auf beiden Seiten Quellen zu haben. Aber die meisten westlichen Medien haben mit Beginn des Bürgerkrieges im Donbass ihre Korrespondenten abgezogen.
Durch die letzte Tür vor der Nacht kriecht das Grauen herein. In der Dunkelheit wird das Entsetzen Olgas heimlicher Begleiter, die Angst durchschneidet ihre Lebenslinie. Seit 2014 lebt die Familie in getrennten Welten diesseits und jenseits der Front. Dort drüben auf der Krim sieht sie ihren Cousin, und sosehr sie ihm im Traum die Hand entgegenstreckt, immer weiter strebt er fort von ihr. Seine Familie in Chust kann er nicht mehr besuchen, da er fürchtet, vom Geheimdienst verhaftet zu werden – niemand weiß, was dann geschehen würde. Der Vater verdient sein Geld bei der Armee und ist dem Nationalismus verfallen. Sie hat es aufgegeben, ihn zu warnen, wohin das führt, hängt doch sein Gehalt davon ab, dass er es nicht versteht. Wo immer sie hingeht, verfolgt sie ein Beben, und ein Riss durch die Erde folgt ihr auf dem Fuß. Die Angst treibt sie vorwärts zu ihrer Schwester nach Helsinki, doch die Erschöpfung lässt sie wieder zurücksinken in sprachloses Entsetzen. So frisst sich der Krieg wie ein Wundbrand in ihre Seele: Zu Hause dort und hier in Deutschland, und doch in beiden Welten obdachlos – ohne Halt, nirgends.
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