Wws-T1: Es geht immer um Kontrolle Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Es geht immer um Kontrolle
Der Wunsch nach Kontrolle ist eng verbunden mit unseren Zielen und Bedürfnissen. Wir sind permanent damit beschäftigt, Ziele zu erreichen. Damit meine ich jetzt gar nicht die großen, übergeordneten Lebensziele, wie beispielsweise eine Familie zu gründen oder eine tolle Karriere zu machen, sondern die tausend kleinen Bedürfnisse, die uns von morgens bis abends antreiben – oder auch lähmen. Morgens klingelt der Wecker, und eigentlich würden wir so gern noch länger schlafen (Ziel), aber wir müssen rechtzeitig mit der Arbeit beginnen (Ziel). Beide Ziele stehen miteinander im Kon ikt (Inkonsistenz). Um Unlust zu vermeiden, wägen wir ab, welches Verhalten die schlimmeren Konsequenzen nach sich zieht, und entscheiden uns für das Aufstehen. Und weiter geht’s mit dem Ziel, sich frischzumachen, was wiederum das Ziel verfolgt, gep egt auszusehen, damit wir von anderen Menschen angenommen oder wenigstens nicht abgelehnt werden (psychisches Grundbedürfnis nach Bindung). Dann treibt uns der Hunger: Wir wollen frühstücken, eigentlich etwas Leckeres, aber unser Diätplan schreibt uns vor, dass es morgens nur einen Tee gibt, womit der nächste Zielkon ikt entsteht (Inkonsistenz), nämlich zwischen Appetit (Lusterfüllung) und Diätvorschrift (Kontrolle über unser Aussehen und unsere Gesundheit). Und so geht es den ganzen Tag weiter: Ständig bilden wir Ziele, die sich vor allem aus unseren körperlichen Grundbedürfnissen (z. B. Hunger) und psychischen Grundbedürfnissen (z. B. Wunsch nach Zugehörigkeit) ergeben. Hinter vielen unserer Bedürfnisse steht der Wunsch nach Sicherheit. Er ist ein zentrales menschliches Grundbedürfnis. Sicherheit bekommen wir unter anderem dadurch, dass wir von anderen anerkannt und gemocht werden, dass wir dazugehören. Nicht umsonst gibt es in der Psychologie den Begriff der »sicheren Bindung«. Auch unsere körperliche Unversehrtheit ist ein zentraler Aspekt unseres Sicherheitserlebens.
Angenehm fühlt es sich an, wenn unsere Ziele in keinerlei Konflikt zu anderen Zielen oder zur Außenwelt stehen, denn dann fällt uns die Entscheidung ganz leicht. Unangenehmer wird es, wenn Zielkonflikte entstehen und ich mich nicht nur für etwas, sondern auch gegen etwas anderes entscheiden muss, indem ich zum Beispiel auf das Ausschlafen verzichte, um pünktlich mit der Arbeit zu beginnen.
Damit ich meine Ziele erreiche, also meine diversen kleineren und größeren Bedürfnisse befriedige, benötige ich Kontrolle über meine Emotionen, meine Gedanken, mein Verhalten und die äußere Umgebung. Ohne Kontrolle läuft gar nichts. Wenn ich morgens aufstehen möchte, benötige ich nicht nur Kontrolle über meinen Körper, sondern auch über meinen Willen. Bin ich entweder körperlich gelähmt oder ist mein Wille von einer Depression erschlagen, dann habe ich keine Kontrolle. Die Konsequenz ist: Ich kann mein Verhalten dann nicht oder nur eingeschränkt steuern.
Unser Grundbedürfnis nach Kontrolle beherrscht auch unsere weiteren psychologischen Grundbedürfnisse nach Bindung, nach Selbstwerterhöhung und Unlustvermeidung. So möchte ich Beziehungen (Bindungsbedürfnis) nicht einfach ausgeliefert sein. Ich möchte eine gewisse Kontrolle darüber haben, ob ich von einem anderen Menschen angenommen oder abgelehnt werde. Wenn ich abgelehnt werde, dann ist mein Selbstwert gekränkt, und damit stellen sich Gefühle von Unlust ein wie zum Beispiel Scham oder Trauer. Deswegen üben wir Kontrolle über unser Verhalten und unser persönliches Erscheinungsbild aus. Mit diesen Kontrollmöglichkeiten erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit, dass andere Menschen uns mögen, damit wir uns gut fühlen.
Kleiner Exkurs: Kontrolle und Macht
Verfüge ich hingegen über Macht, also die gesteigerte Form der Kontrolle, dann kann ich die Kontrolle über mein Verhalten und mein Erscheinungsbild lockern. Eine Chefin oder ein Diktator können über so viel Macht verfügen, dass ihre Untergebenen ihnen folgen, egal wie schlecht sie sich benehmen. Verfüge ich jedoch über wenig Macht, dann muss ich durch angepasstes und sozial erwünschtes Verhalten dafür sorgen, dass sich andere Menschen in meinem Sinne verhalten. Das Gegenteil von Macht ist Ohnmacht. In totalitären Regimen und sehr dysfunktionalen Beziehungen kann die Ohnmacht des Einzelnen zur Unterwerfung führen. Die Unterwerfung ist die extreme Form der Anpassung.
Ich möchte jedoch durch die Kontrolle meines Verhaltens nicht nur erreichen, dass ich ein Teil der Gemeinschaft bleibe – und sei es auch nur innerhalb meiner Subkultur. Ich möchte auch dafür sorgen, dass mein direktes Gegenüber – sei es mein Partner, ein Freund oder eine Bekannte – auf meine Bedürfnisse eingeht. Wenn ich mit jemandem rede, möchte ich, dass er oder sie mir zuhört. Wenn ich mein Gegenüber um Hilfe bitte, dann hätte ich gern, dass es dieser Bitte entspricht. Wenn der andere sich ständig gegen meine Erwartungen verhält, dann stellen sich Hilflosigkeit und Ärger ein. Dann beende ich die Beziehung entweder oder – wenn ich vom anderen emotional oder wirtschaftlich abhängig bin – verändere meine Erwartungen. Wenn ich also keine äußere Kontrolle ausüben kann, dann schraube ich an der inneren Kontrolle, indem ich meine Erwartungen anpasse. Hierdurch übe ich indirekt Kontrolle über meine Gefühle aus: Je weniger ich erwarte, desto weniger Enttäuschung stellt sich ein. Somit gewinne ich zumindest einen Teil der Kontrolle über meine Emotionen zurück. Sprich, wenn ich gar nicht erst erwarte, dass mein Gesprächspartner einer Meinung mit mir ist, dann erzeugt dies weniger Inkonsistenz in mir, als wenn ich den dringenden Wunsch habe, ihn von meiner Meinung zu überzeugen. Die sogenannte Enttäuschungsprophylaxe dient dem Erwartungsmanagement. Wenn ich gar nicht damit rechne, dass ich meine Ziele erreiche, dann ist der subjektive Kontrollverlust im Falle meines Scheiterns kleiner, als wenn ich mir zuvor große Chancen ausgerechnet hätte.
Exkurs: Schuldübernahme in Beziehungen
Eine spezielle Form der Beziehungskontrolle wird auch ausgeübt, wenn einer der Beteiligten die Schuld auf sich nimmt, obwohl sie eigentlich nicht bei ihm oder ihr liegt. Wenn ich beispielsweise einen sehr schwierigen Partner habe, der oft meine Erwartung nach Nähe und Geborgenheit enttäuscht, indem er mich häufig alleinlässt und mich verbal abwertet, dann kann es mir ein Stück weit Kontrolle zurückgeben, wenn ich denke, ich hätte es nicht anders verdient. Nicht wenige Menschen, deren Schattenkind von Gefühlen der Wertlosigkeit geprägt ist, meinen, der andere würde sich liebevoller verhalten, wenn sie in irgendeiner Form besser wären. Hierdurch übernehmen die Betroffenen indirekt die Verantwortung für das Verhalten ihres lieblosen Partners. Damit üben sie gleich zwei Formen der Kontrolle aus:
1. Wenn der Fehler bei mir liegt, liegt es innerhalb meiner Kontrolle, ihn zu beseitigen und ein Happy End herbeizuführen.
2. Wenn ich selbst schuld bin, dann fühle ich mich den Taten des anderen nicht so ausgeliefert, weil ja eine gewisse Form der Gerechtigkeit herrscht, was besser zu ertragen ist als reine Willkür.
Kontrolle ist das Gegenteil von Hilflosigkeit, Kontrolle reduziert Angst. Deswegen benötigen wir sie wie die Luft zum Atmen. Eine schwere Depression kann auch als die Aufgabe jeglicher Kontrollbemühungen angesehen werden. Depressive haben das Gefühl, auf nichts mehr Einfluss nehmen zu können, vor allem nicht auf ihre persönliche Stimmung. Durch diesen extremen, subjektiv erlebten Kontrollverlust stellt sich auch das Gefühl maximaler Sinnlosigkeit ein. Wenn ich mir nämlich keinerlei Chancen ausrechne, irgendetwas zu bekommen, was ich gerne hätte, dann macht für mich auch nichts mehr einen Sinn.
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