Wws-T1: Angst: ein wichtiges und ungeliebtes Gefühl Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Angst: ein wichtiges und ungeliebtes Gefühl
Unsere Gefühle geben unserem Leben einen Sinn. Sie helfen uns auch, es zu verstehen. Das trifft auch auf ein Gefühl zu, das wir alle am liebsten vermeiden möchten: die Angst. Wir alle fürchten oder verachten die Angst. Niemand ist gerne ängstlich. Es sei denn, wir suchen die prickelige Form der Angst auf, die man auf der Achterbahn oder beim Bungee-Jumping erlebt. Diese entsteht durch den gefühlten Kontrollverlust. Aber echte Gefahren suchen wir normalerweise nicht freiwillig auf. Es wäre ja auch kontraproduktiv von der Natur, wenn wir es tollfinden würden, uns in Gefahr zu begeben.
Aber obwohl wir dieses Gefühl vermeiden wollen, nimmt Angst im Leben vieler Menschen eine zentrale Funktion ein. Sie steuert einige Menschen ganz ungeheuer in ihrem Verhalten. Praktisch alle psychischen Probleme sind mit der Emotion der Angst verbunden. Nicht selten ist die Angst an sich auch das Problem, wie bei Panikattacken, Prüfungs- oder Verlustangst.
Angst hat eigentlich die Funktion, uns zu schützen. Menschen, die aus neurologischen Gründen keine Angst empfinden können, sterben früher.
Angst kann aber auch ein ungeheurer Antrieb für Leistung und Erfolg sein: Wer grundlegend Angst hat, zu versagen oder in einem schlechten Licht dazustehen, strengt sich oftmals besonders an. Die Schutzfunktion von Angst wird dann indirekt ausgeübt. Angst steht in Verbindung mit all unseren vier psychischen Grundbedürfnissen. Wer beispielsweise aufgrund seiner unterschwelligen Versagensangst erfolgsgetrieben ist, beschützt hierdurch seinen Selbstwert, sein Bedürfnis nach Bindung (vermittelt durch die Anerkennung anderer) und sein Kontrollbedürfnis. Zudem vermeidet er Unlustgefühle durch Misserfolg beziehungsweise strebt Lustgefühle durch Erfolgserlebnisse an.
Angst warnt uns vor Gefahren, die unsere körperliche oder psychische Unversehrtheit betreffen. Ängste, die sich auf unsere körperliche Unversehrtheit beziehen, sind die Angst vor Krankheit, Verletzungen und dem Tod. Diese Ängste sind zutiefst menschlich und normal.
Ängste, die im Zusammenhang mit unserer körperlichen Unversehrtheit stehen, sind unter anderem: Flugangst, Angst vor Hunden, Agoraphobie (Angst vor Plätzen), Höhenangst oder Hypochondrie. Ängste, die sich auf psychische Gefahren beziehen, drehen sich um die Themen Verlust, Zurückweisung, Beschämung, Versagen, Ohnmacht und Kontrollverlust. Hierzu zählen unter anderen: Prüfungsangst, Angst vor Einsamkeit, Verarmungsangst, Bindungsangst, Lampenfieber und soziale Ängste.
Exkurs: Angst vor dem Tod
Jeder Mensch hat Angst vorm Sterben. Dieses Thema wird jedoch leider in unserer Gesellschaft stark gemieden. Stattdessen konzentrieren wir uns auf die Verlängerung des Lebens: Die Medien sind voll von Gesundheitstipps. Ständig gibt es neue Hypes um gesundes Essen, Nahrungsergänzungsmittel oder Fitnessprogramme. Das Gesundheitsthema steht viel stärker im Vordergrund als Themen, die sich um unsere Ängste vor dem Ende oder dem Verfall drehen. Meiner Meinung nach dient die übertriebene Fokussierung auf diese Gesundheitsthemen der Verdrängung unserer Todesängste, indem sie das subjektive Kontrollempfinden stärkt. Der berühmte und geniale US – amerikanische Psychotherapeut und Schriftsteller Irvin Yalom sagte sinngemäß: Unser Gehirn verfügt zwar über die Fähigkeit, unsere Sterblichkeit zu reflektieren, aber nicht über die Fähigkeit, damit umgehen zu können. Dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen. Die ganzen Pillen und Superfoods sind ein gigantischer Umsatzmarkt, der sich von der menschlichen Angst vorm Sterben ernährt. Es ist natürlich gar nichts dagegen einzuwenden, wenn man auf seine Gesundheit achtet, im Gegenteil, das ist richtig und gut. Es wäre jedoch schön, wenn die psychologischen Themen, die sich auf unsere Verletzlichkeit und Ängste beziehen, nicht unter den Gesundheitsthemen begraben würden.
Allen Ängsten, egal ob rein psychischer und/oder körperlicher Natur, liegt ein tatsächlicher oder fantasierter Kontrollverlust zugrunde. Kontrolle ist das Gegenmittel zur Angst. Eine Situation, die ich kontrollieren kann, erzeugt keine Angst. Das Gleiche gilt allerdings auch für Vertrauen. Wenn ich den äußeren Umständen (z. B. der Flugsicherheit), anderen Menschen (z. B. meinem Partner) oder mir selbst vertraue, dann ist dies auch ein gutes Gegenmittel zu Ängsten, die sich ohne das entsprechende Vertrauen einstellen könnten (Flugangst, Verlustangst, Angst vor Ablehnung oder Versagen). Je mehr Vertrauen ich aufbringen kann, desto weniger muss ich kontrollieren – und umgekehrt. Eine Variante des Vertrauens ist die Gewöhnung. Wir haben die Fähigkeit, uns an Zustände, die anfänglich angsteinflößend waren, zu gewöhnen. Hierdurch stellt sich eine Art des Vertrauens ein.
Umfragen zufolge war die Angst vor dem Coronavirus am Anfang der Pandemie am größten. Zu einem späteren Befragungszeitpunkt sanken die Werte deutlich, obwohl sich die Situation objektiv nicht verbessert hatte, aber die Menschen hatten sich halt daran gewöhnt. (024) Ängsten liegt eine Verletzung eines oder mehrerer psychischer Grundbedürfnisse zugrunde. Menschen, die beispielsweise unter der Angst leiden, allein Auto zu fahren oder sich im öffentlichen Raum von A nach B zu bewegen (Formen der Agoraphobie), sind in ihrer Autonomie geschwächt. Bildlich gesprochen trauen sie sich nicht, die Hand von der Mama loszulassen und auf eigenen Füßen durchs Leben zu gehen. Sie wurden als Kinder entweder in ihrem Bindungsbedürfnis frustriert, so dass sie darauf keine gesunde Autonomie aufbauen konnten. Oder sie wurden durch Überbehütung unmittelbar in ihrer autonomen Entwicklung geschwächt.
Bindung bedeutet für die Betroffenen Sicherheit, während das autonome Auf-sich-selbst-gestellt-Sein sie überfordert und verängstigt. Dabei können sie in anderen Lebensbereichen durchaus taff und selbstständig sein. Die Angst, dem Leben irgendwie nicht gewachsen zu sein, verlagert sich unbewusst auf Situationen, in denen dann die Panik-oder Angstattacken auftreten. Diese schwierigen Situationen können die Betroffenen am besten überstehen, wenn eine Bindungsperson sie begleitet.
Darin liegt in einigen Fällen auch der sogenannte Krankheitsgewinn, also der versteckte Nutzen der Angst. Durch ihre Angststörung und das damit einhergehende Gebot, Unterstützung durch Partner und Familienangehörige zu erhalten, üben sie unbewusst auch eine gewisse Kontrolle über diese aus. Die Angst liefert unbewusst den Vorwand, Nähe und Hilfe von diesen einzufordern. Bei der Überwindung von Ängsten geht es deswegen auch immer darum, die Autonomie der Betroffenen zu stärken und den verdeckten Krankheitsgewinn zu bearbeiten.
Die sogenannte Erwartungsangst spielt allerdings auch eine große Rolle bei der Aufrechterhaltung von Angststörungen. Erwartungsangst bezeichnet die Angst vor der Angst. Die Betroffenen wissen vom Kopf her ganz genau, dass die Situation als solche, wie beispielsweise eine Busfahrt, ungefährlich ist, aber sie haben riesige Angst vor dem Gefühl der Angst als solchem, das bei einer Busfahrt aufkommen könnte. Das Vermeidungsmotiv ist sehr groß.
Hierdurch entsteht leicht ein Teufelskreis, denn je öfter ich angstauslösende Situationen vermeide, desto tiefer spurt sich in meinem Gehirn ein, dass diese Situationen gefährlich sind und ich sie nicht bewältigen kann. Die Grundangst verbleibt trotz Vermeidung im Organismus des oder der Betroffenen und wird dann auf die nächste, kleinere Situation projiziert, die ebenfalls vermieden werden muss. Hierdurch schränken viele Betroffene ihren Aktionsradius immer weiter ein, bis sie sich im schlimmsten Fall irgendwann nicht mehr aus dem Haus trauen.
Bei der sogenannten Expositionsbehandlung werden Menschen mit einer Angststörung in Begleitung des Therapeuten oder der Therapeutin in die angstauslösende Situation versetzt. Vorher werden Techniken eingeübt, die zur Selbstregulation der Ängste dienen, wie beispielsweise Entspannungsverfahren oder beruhigende Dialoge, die der »innere Erwachsene« mit seinem »inneren Kind« führt. Diese Techniken tragen dazu bei, dass durch die Stärkung der Vernunft, also des frontalen Cortex, die Reaktion in der Amygdala gehemmt wird, bevor sie außer Kontrolle gerät, wie ich es bereits im vorherigen Abschnitt dargestellt hatte. Hierdurch wird die internale Kontrollüberzeugung der Klienten gestärkt, also die Überzeugung, die Situation bewältigen zu können. Dadurch verliert wiederum die Situation vorab bereits an Schrecken.
Wenn wir Angst empfinden, schüttet unser Körper Stresshormone aus, die uns körperlich in höchste Alarmbereitschaft versetzen: Alle Energien werden bereitgestellt, damit wir die Gefahr bewältigen können. Mental sind wir total auf die Situation fokussiert. Das macht evolutionsgeschichtlich sehr viel Sinn, um reale Gefahren für Leib und Leben abzuwenden. Die starke Angstreaktion ist jedoch in unserer heutigen Lebenssituation, in der es sehr selten um reale Gefahren geht, ziemlich kontraproduktiv. Denn gerade das ständige Fokussieren auf die eigenen Ängste, das nicht selten in Grübelzwänge ausartet, erzeugt viel Leidensdruck, ohne dass die Betroffenen einer Lösung näherkämen.
Nicht immer zeigen Ängste ihr wahres Gesicht, sondern sie verbergen sich gern auch mal hinter anderen Emotionen. Wut und Hass sind zum Beispiel Emotionen, denen häufig Angst zugrunde liegt. Der Hass auf Fremde entspringt beispielsweise häufig der eigenen Angst vor dem sozialen Abstieg oder auch dem eigenen Minderwertigkeitsgefühl und der damit einhergehenden Angst vor sozialer Ablehnung. Durch den Fremdenhass wird die empfundene Minderwertigkeit dann kompensiert, indem man sich gegenüber Ausländern höherwertig und überlegen fühlt.
Wie so oft sind auch unsere Gene am Ausmaß unserer Angst beteiligt. Ungefähr 20 Prozent der Babys werden mit einer hohen Angstbereitschaft geboren. Jerome Kagan, der Harvard-Professor, der diese Entdeckung machte, bezeichnete diese Babys als »High Reactives«. Das Angstzentrum (Amygdala) von Kindern mit dieser Veranlagung schlägt schon bei geringsten Anlässen Alarm, die andere Kinder nicht aus der Ruhe bringen würden. Ich vermute, dass es hier eine Schnittmenge zum Konzept der Hochsensibilität gibt. Die Forschungsarbeit der US-amerikanischen Psychologin Elaine Aaron scheint das zu bestätigen: Laut ihrer Studie tendieren hochsensible Menschen auch zum Neurotizismus und reagieren damit in den Augen ihrer Umwelt häufig übertrieben.
Exkurs: Was ist Hochsensibilität?
Die meisten von uns kennen Menschen, die sich schnell unwohl fühlen – manchmal schon wegen der Lautstärke oder des Geruchs in einem Raum oder der Stimmung in einer Gruppe. »XY IST HALT EIN SENSIBELCHEN«, LAUTET DIE GÄNGIGE ERKLÄRUNG. » XY IST ZARTBESAITET. DER IST HALT SO EMPFINDLICH.« TATSÄCHLICH GIBT ES ZU DIESER OFFENBAR EXTREMEN FEINFÜHLIGKEIT EINE PSYCHOLOGISCHE DIAGNOSE BEZIEHUNGSWEISE VERMUTUNG: HOCHSENSIBILITÄT IST EIN UMGANGSSPRACHLICHER AUSDRUCK FÜR EIN PERSÖNLICHKEITSMERKMAL, DAS MANCHMAL AUCH ALS HYPERSENSITIVITÄT ODER HYPERSENSIBILITÄT BEZEICHNET WIRD. IN DER WISSENSCHAFT WERDEN DAFÜR DIE AUSDRÜCKE »SENSORY PROCESSING SENSITIVITY« ( SPS ) ODER »HIGHLY SENSITIVE PERSON« ( HSP ) VERWENDET.
SOGENANNTE HOCHSENSIBLE MENSCHEN NEHMEN ÄUSSERE REIZE DEUTLICH INTENSIVER WAHR ALS ANDERE. DIE BETROFFENEN HÖREN, SEHEN, RIECHEN UND SCHMECKEN ANDERS ALS WENIGER FEINFÜHLIGE MENSCHEN. DEMENTSPRECHEND FÜHLEN SIE SICH SCHNELLER REIZÜBERFLUTET, REAGIEREN HEFTIGER UND BRAUCHEN AUCH LÄNGER, UM DIE REIZE ZU VERARBEITEN.
Die Definition dieses Persönlichkeitsmerkmals geht zurück auf die US- amerikanische Psychologin Elaine N. Aron, die 1997 eine Forschungsarbeit zu diesem Thema veröffentlichte. Inwieweit Hochsensibilität tatsächlich ein eigenständiges Persönlichkeitsmerkmal ist, ist in der Fachwelt umstritten. Es gibt wissenschaftliche Stimmen, die in Hochsensibilität eher eine Variante von Neurotizismus oder Ängstlichkeit sehen. Das Merkmal ist schwer zu fassen. Auch deshalb schwanken die Schätzungen zur Häufigkeit: Etwa 15 bis 30 Prozent der Bevölkerung sind betroffen. In jedem Fall gibt es neurowissenschaftliche Studien, die unterschiedliche Muster der Hirnaktivität bei Hoch- und Normalsensiblen nachgewiesen haben.
Außerdem überschneidet sich eine hohe Angstbereitschaft häufig auch mit der Persönlichkeitseigenschaft des Neurotizismus, den ich bereits im Abschnitt »Motivation und Gene« vorgestellt habe. Auch bei sehr ängstlichen Kindern zeigt sich, ebenso wie bei »neurotischen« Kindern, dass sie ihre Veranlagung verändern und überwinden können, wenn sie bei einfühlsamen Eltern aufwachsen. Das trifft auf Eltern zu, die ihre Kinder darin bestärken, ihre Ängste zu überwinden, und sie keinesfalls überbehüten. Die sogenannten »High Reactives« entwickelten sich unter dieser Bedingung zu Erwachsenen, die Stress gut bewältigen konnten.
Übrigens sind laut Kagans Forschung 40 Prozent der Kinder »Low Reactives« – diese lassen sich nur schwer aus der Ruhe bringen. Im Vergleich zu den High Reactives haben diese Menschen bei der Verteilung der genetischen Anlagen also vielleicht einen Startvorteil. Wie ich jedoch immer wieder gern betone, können Menschen über ihre Angst hinauswachsen, wenn es für sie einen persönlichen Sinn ergibt. Dieser persönliche Sinn ergibt sich häufig aus unserer Mitmenschlichkeit und Liebe für andere Menschen und Wesen, oder auch einem tiefen Empfinden für Gerechtigkeit. Ich werde in Teil III dieses Buches näher darauf eingehen, was bei Ängsten und anderen »Problemgefühlen« konkret hilft.
Eine andere Form, unsere Ängste in Schach zu halten, stellt die Verdrängung dar. Wir verfügen über diverse psychische Abwehrmechanismen, um unliebsamen Gefühlen aus dem Weg zu gehen.
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