Zweiter Schritt: Zugang zu den Gefühlen schaffen

Überangepasste Menschen, auch jene mit autonomer Ausprägung, weisen meist ein bestimmtes Problem auf: Sie haben einerseits einen schlechten Zugang zu ihren Gefühlen oder verspüren andererseits bestimmte Gefühle zu intensiv. Unsere Gefühle sind die Essenz unseres Bewusstseins. Wie ich schon mehrfach betont habe, wollen wir unangenehme Gefühle möglichst vermeiden und angenehme erlangen. Unsere Probleme sind mit unseren Gefühlen verzahnt. Viele Probleme resultieren aus Überangepasstheit oder autonomer Abgrenzung der Betroffenen. Um in eine gute Balance zwischen Autonomie und Bindung zu gelangen, benötige ich einen guten Zugang zu meinen Gefühlen. Bei der Bindung geht es um das Miteinander, das Wir. Bei der Autonomie geht es um die Abgrenzung, das Ich. Für die Bindung benötige ich einen guten Zugang zu meinen Gefühlen, um mitmenschlich und empathisch zu sein. Für die Autonomie benötige ich den guten Zugang, um zu wissen, was ich will oder auch, was ich nicht will. Wenn ich meine eigenen Grenzen nicht spüren kann, dann kann ich auch nicht für mich eintreten. Gefühle formatieren den Willen: Wenn ich nicht fühle, dass ich erschöpft bin, dann fehlt der Wille zur Erholung, und es unterbleiben die folgerichtigen Handlungsschritte.

Für die Empathie und ein möglichst liebevolles und friedliches Miteinander muss ich fühlen können. Ich kann nur jene Gefühle beim anderen mitfühlen, die mir selbst zur Verfügung stehen (siehe dazu »Exkurs: Warum wir mehr Mitgefühl und Selbstreflexion brauchen«).

Brutalität entsteht immer da, wo Menschen innerlich abgestumpft sind. Die ungeheuren Grausamkeiten, die Menschen sich gegenseitig antun, können nur auf dem Boden mangelnden Mitgefühls gedeihen. Selbstreflexion, die in meinem Verständnis immer den Kontakt zu den eigenen Gefühlen mit einschließt, wäre ein Weg, der zu einem liebevolleren und friedlichen Miteinander führen könnte. Dies gilt sowohl für unsere persönlichen Beziehungen als auch tatsächlich für den Weltfrieden.

Überangepasste und Autonome leiden darunter, dass sie manche Gefühle oder sogar fast alle Gefühle kaum spüren können. Ihr Leben erscheint ihnen deswegen dumpf und leer, und es fällt ihnen schwer, Entscheidungen zu treffen, die sich »gut anfühlen«. Und/oder sie leiden unter ihren zu intensiven Gefühlen wie Panikattacken, Wutausbrüchen oder tiefer Verzwei ung. Wieder andere leiden unter einer oder mehreren Süchten, sie werden von einer Droge abhängig, die ihnen kurzfristig gute Gefühle bereitet, sie jedoch langfristig zerstört.

Gefühle sind nicht nur Ausdruck unseres Seins, sie legen uns auch nahe, wie wir uns verhalten sollen. Wut rät uns beispielsweise zu kämpfen. Trauer rät uns zum Rückzug, Eifersucht zu Kontrolle usw. Unsere Selbstschutzstrategien resultieren aus unseren Gefühlen – entweder, weil wir bestimmte Gefühle vermeiden oder, weil wir sie erlangen wollen. Wenn mein Schattenkind Angst vor Ablehnung hat, möchte es dieses Gefühl vermeiden, indem es nach Perfektion strebt oder indem es sich zurückzieht und unter seinen Möglichkeiten bleibt. Ist das Schattenkind hingegen häufig wütend, dann fängt es möglicherweise Streit wegen Nichtigkeiten an und zerstört damit seine Beziehungen. Längst nicht alle Gefühle sind gute Berater. Entspringen sie nur unserem Schattenkind und sind der Situation an sich unangemessen, verführen sie uns zu Verhaltensweisen, mit denen wir unsere Beziehungen belasten.