IZ: 0 Einführung – Die Magie der Zellen

Ich war sieben Jahre alt und in der zweiten Klasse, als ich bei unserer Lehrerin, Frau Novak, im Unterricht auf eine Kiste stieg, um durch ein Mikroskop schauen zu können. Zuerst ging ich vor lauter Aufregung zu dicht ran und erkannte nur einen Lichtfleck. Doch schließlich legte sich meine Aufregung so weit, daß ich den Anweisungen der Lehrerin folgen konnte und mich mit dem Auge etwas weiter vom Okular wegbewegte. Und dann geschah etwas, das den Rest meines Lebens bestimmen sollte: Ein Pantoffel­tierchen schwamm in mein Blickfeld. Ich war restlos fasziniert. Das lärmende Getöse meiner Mitschüler trat ebenso in den Hintergrund wie der Geruch der frisch gespitzten Bleistifte und der Plastikkistchen mit Buntstiften. Ich war vollkommen gebannt von die­ser fremden Welt der Zelle, die mir viel aufregender erschien als die fantastischen Wel­ten heutiger Kinofilme gespickt mit Computeranimationen und Special Effects.

 

In meinem kindlichen Verständnis sah ich diesen Organismus nicht als Zelle, sondern als mikroskopisch kleine Person, als denkendes, empfindsames Wesen. Dieser winzige einzellige Organismus schien mir nicht planlos im Wasser umherzutreiben, sondern ein Ziel zu haben, das mir jedoch unbekannt war. Ich sah dem Pantoffeltierchen regungslos zu, während es sich geschäftig über ein Algenblatt hermachte. Und wie ich das Pantof­feltierchen so beobachtete, schob sich auch noch das große Scheinfüßchen einer heran­fließenden, lang gestreckten Amöbe in mein Blickfeld.

 

In diesem Augenblick wurde mein Besuch in dieser Lilliput-Welt rüde unterbrochen,
weil Glenn, der Klassenstärkste, mich von der Kiste stieß, um als Nächster durch das Mikroskop zu schauen. Ich versuchte, von der Lehrerin noch eine kleine Verlängerung meines Blicks durch das Mikroskop zu erwirken, aber es war kurz vor der Mittagspause, und auch die anderen Kinder wollten noch drankommen. Nach der Schule rannte ich nach Hause und erzählte meiner Mutter aufgeregt von meinem Abenteuer. Mit der Überredungskunst eines begeisterten Zweitkläßlers bat und bettelte ich so lange, bis mir meine Mutter schließlich ein Mikroskop kaufte. Ich verbrachte Stunden damit, diese fremde Welt zu bestaunen, zu der ich mir durch das Wunder der Optik Zugang ver­schaffen konnte.

 

In der Hochschule eröffneten sich mir neue Möglichkeiten mit dem Elektronenmikro­skop, das tausendfach stärker ist als ein gewöhnliches Mikroskop. Der Unterschied läßt sich vergleichen mit dem zwischen den Fernrohren an touristischen Aussichtspunkten und dem Hubble-Teleskop, das uns Bilder aus den Tiefen des Weltraums übermittelt.

 

Der Zutritt zum Elektronenmikroskop-Bereich eines Labors hat für den angehenden Biologen beinahe etwas Rituelles. Man geht durch eine schwarze Drehtür, ähnlich der Tür vor der Dunkelkammer eines Fotolabors. Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich diese Drehtür betrat und sie vorwärts schob. Ich befand mich in der Dunkelheit zwi­schen zwei Welten – zwischen meinem Leben als Student und meinem zukünftigen Le­ben als Wissenschaftler.

 

Die Tür öffnete sich in einen großen, dunklen Raum, der von einigen Infrarotlampen spärlich erhellt wurde. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte ich langsam, was vor mir stand. Das rote Licht spiegelte sich auf gespenstische Weise in dem Chrom einer dicken, massiven, mit elektromagnetischen Linsen bestückten Stahlsäule, die sich in der Mitte des Raums bis zur Decke erhob. Ausgehend von der Säule erstreckte sich eine große Steuerungskonsole in den Raum.

 

Sie erinnerte mich an das Instrumentenboard einer Boing 747, voller Hebel, beleuchte­ter Meßgeräte und vielfarbiger Anzeigelämpchen. Wie Tentakel schlängelten sich vom Fuß des Mikroskops aus dicke Stränge von Elektrokabeln, Wasser- und Vakuumschläu­chen in alle Richtungen. Das Ganze ähnelte den knorrigen Wurzeln einer alten Eiche. Im Hintergrund klapperten die Vakuumpumpen und summten die Kühlwassergeräte.

 

Ich hatte ein Gefühl, als hätte man mich geradewegs an Bord von Raumschiff Enterprise gebeamt. Aber offensichtlich hatte Captain Kirk gerade seinen freien Tag, denn an der Konsole saß einer meiner Professoren und konzentrierte sich darauf, eine Gewebeprobe in die Vakuumkammer im Zentrum der Stahlsäule einzulegen. Während ich dort ein paar Minuten so wartete, hatte ich ein ähnliches Gefühl wie da­mals in der zweiten Klasse, als ich zum ersten Mal eine Zelle sah. Endlich erschien ein grün leuchtendes Bild auf dem Monitor. Die dunkel eingefärbten Zellen waren bei der 30fachen Vergrößerung kaum zu erkennen. Dann wurde die Vergrößerung Schritt um Schritt erhöht, zuerst um das l00fache, dann das l000fache, dann das 10.000fache. Als wir schließlich in den Warp-Antrieb schalteten, waren die Zellen 100.000fach vergrö­ßert. Es war wirklich wie in Star Trek, nur daß wir nicht die Tiefen des Weltalls, des äu­ßeren Raums, erkundeten, sondern in die unbekannten Tiefen des inneren Raums vor­stießen, »die nie zuvor ein Mensch betreten hat«. Eben hatte ich noch eine winzige Zelle gesehen, und Sekunden später befand ich mich tief in ihrer molekularen Struktur.

 

Ich verspürte Ehrfurcht vor diesem Wunder der Wissenschaft und empfand es als große Ehre, als ich zum Kopiloten ernannt wurde. Ich legte meine Hände auf die Instrumente und flog selbst über diese fremde, zelluläre Landschaft. Als mein Reiseführer wies mich mein Professor auf besondere Merkmale hin: »Da ist ein Mitochondrium, da ist der Gol­gi-Apparat, da drüben ist eine Kernpore, und hier ist ein Kollagen-Molekül. Das hier ist ein Ribosom.«

 

Ich fühlte mich wie ein Pionier, der bislang unerforschtes Gebiet erkundet. Das Licht­mikroskop hatte mir die Zellen als empfindsame Wesen gezeigt – das Elektronenmikro­skop brachte mich in direkten Kontakt mit den Molekülen, den Grundbausteinen des Lebens. Ich wußte, daß tief in der Zytostruktur Hinweise auf das Geheimnis des Lebens lagen.

 

Für einen kurzen Augenblick wurden die Linsen des Mikroskops zur Kristallkugel – in dem gespenstisch grünen Leuchten des Bildschirms sah ich meine Zukunft. Ich wußte, ich würde Zellbiologe werden, um Einblicke in die Geheimnisse zellulären Lebens zu gewinnen. Im bisherigen Studium war mir schon früh bewußt geworden, daß Struktur und Funktion von biologischen Organismen eng miteinander verwoben sind. Ich war mir sicher, daß ich Einblick in das Wesen der Natur gewinnen würde, wenn ich die mi­kroskopische Anatomie der Zelle mit ihrem Verhalten in Verbindung brachte.

 

Und so verbrachte ich während meines ganzen Studiums, meiner Doktorandenzeit und noch in meiner Zeit als Professor an der medizinischen Fakultät viele Stunden mit der Erfor­schung der molekularen Anatomie der Zelle, denn in der Struktur der Zelle verbergen sich die Geheimnisse ihrer Funktion.

 

Um die »Geheimnisse des Lebens« zu ergründen, widmete ich mich der Erforschung geklonter Stammzellen in Gewebekulturen. Zehn Jahre nach meiner ersten Begegnung mit einem Elektronenmikroskop lehrte ich an der angesehenen medizinischen Fakultät der Universität von Wisconsin. Meine Forschungen über geklonte Stammzellen waren international anerkannt und meine Seminare gut besucht. Ich arbeitete jetzt an noch stär­keren Elektronenmikroskopen, mit denen ich dreidimensionale, computertomogra­phie-ähnliche Fahrten durch Organismen unternehmen konnte, bei denen ich den Mole­külen, die die Grundlage des Lebens bilden, von Angesicht zu Angesicht gegenüber­stand. Meine Instrumente hatten sich zwar weiterentwickelt, aber meine Haltung blieb unverändert. Ich verlor nie die Überzeugung des Siebenjährigen, daß das Leben der Zel­len, die ich untersuchte, einen Sinn hatte.

 

Leider war ich nicht davon überzeugt, daß mein eigenes Leben einen Sinn hatte. Ich glaubte nicht an Gott, obwohl ich zugeben muß, manchmal grübelte ich verzweifelt dar­über nach, ob es nicht doch einen Gott gibt, der diese Welt mit einem ausgeprägten Sinn für schwarzen Humor regiert. Schließlich war ich ein traditionell rational und naturwis­senschaftlich denkender Biologe, für den die Frage nach Gott überflüssig ist: Das Leben ist eine Konsequenz reinen Zufalls, ein zufällig gemischtes Kartenspiel oder ein geneti­sches Würfeln. Seit Darwins Zeiten lautet das Motto unserer Zunft: Gott? Wir brauchen keinen Gott!


Darwin hat die Existenz Gottes nicht geleugnet. Er meinte lediglich, das Leben auf der Erde sei nicht durch göttliche Intervention, sondern durch den Zufall entstanden. In sei­nem Buch DER URSPRUNG DER ARTEN von 1859 erklärte Darwin, daß die individuellen Anlagen von den Eltern an die Kinder weitervererbt werden. Seiner Ansicht nach steu­ern diese »Erbfaktoren« die Eigenschaften unseres individuellen Lebens. Diese Erkennt­nis führte in der Wissenschaft zu intensiver Forschung, die darauf abzielte, das Leben bis in seine molekularen Einzelheiten zu zerlegen, denn in den Strukturen der Zellen vermutete man den Erbmechanismus, der das Leben bestimmt.

 

Vor fünfzig Jahren fand diese Suche einen bemerkenswerten Abschluß, als James Wat­son und Francis Crick die Struktur und Funktion der DNS-Doppelhelix beschrieben, aus der die Gene bestehen. Endlich hatten die Wissenschaftler das Wesen der »Erbfaktoren« entschlüsselt, über die Darwin im neunzehnten Jahrhundert geschrieben hatte. Die Ta­gespresse prophezeite eine »schöne neue Welt der genetischen Manipulation« mit Desi­gner-Babies und Wunderheilungen. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Schlagzeilen jenes Tages im Jahr 1953: »Das Geheimnis des Lebens ist entdeckt!«

 

Auch die Biologen sprangen auf diesen Zug auf. Der Mechanismus, mit dem die DNS das biologische Leben steuert, wurde zum zentralen Dogma der Molekularbiologie und in zahllosen Büchern breitgetreten. Der lange Streit »Natur oder Kultur?« (d.h. zwi­schen Veranlagung oder Konditionierung, zwischen Angeborenem und Erworbenem) schien zugunsten der Natur auszugehen. Zuerst hielt man die DNS nur für die Ursache unserer körperlichen Merkmale, aber dann glaubte man zunehmend, daß die Gene auch unsere Emotionen und unser Verhalten bestimmen. Wurde man also mit einem ange­knacksten Glücks-Gen geboren, dann erwartete einen eben ein unglückliches Leben.

 

Leider glaubte ich, zu den Leuten zu gehören, bei denen das Glücks-Gen vergessen worden oder mutiert war. Ich taumelte unter einem unablässigen Bombardement von Schicksalsschlägen dahin. Mein Vater war gerade nach einem langen, leidvollen Kampf gegen den Krebs gestorben. Die letzten vier Monate hatte ich damit verbracht, alle drei bis vier Tage zwischen meiner Arbeit in Wisconsin und seinem Zuhause in New York hin und her zu fliegen. Wenn ich nicht gerade an seinem Sterbebett saß, dann versuchte ich, mein Forschungsprogramm weiterzuführen, meine Seminare und Vorlesungen zu halten und einen neuen Förderantrag für das National Institute of Health auszuarbeiten.

 

Um mein Streßniveau noch ein wenig zu erhöhen, steckte ich mitten in einem emotional äußerst belastenden und finanziell verheerenden Scheidungsprozeß. Die Kosten dafür fraßen meine gesamten finanziellen Ressourcen auf. Finanziell angeschlagen und ohne festen Wohnsitz fand ich in einem schrecklichen »Garten-Apartmentkomplex« Unter­schlupf. Die meisten meiner Nachbarn hofften darauf, einen Platz auf einem Wohnwa­genpark zu finden und dadurch ihre Situation zu verbessern. Ich fürchtete mich beson­ders vor meinen direkten Nachbarn. Bereits in der ersten Woche, in der ich dort lebte, wurde bei mir eingebrochen und meine neue Stereoanlage geklaut. Eine Woche später klopfte ein Hüne von einem Mann mit einer Dose Bier in der Hand an meine Tür, pulte sich mit einem Nagel in den Zähnen und fragte mich nach der Gebrauchsanleitung für das Kassettendeck.

 

Mein Tiefpunkt war der Tag, an dem ich in meinem Zimmer im Institut das Telefon
durch die Tür mit dem Schild mit: »Bruce Lipton, Ph.D., Assistenz-Professor für Anato­mie« schleuderte, und dabei schrie: »Ich will hier raus!« Meinem Zusammenbruch war ein Telefongespräch mit einem Banker vorausgegangen, der höflich, aber bestimmt mei­nen Antrag auf eine Hypothek abgelehnt hatte. Es war wie in dieser Szene aus Zeit der Zärtlichkeit, in der Debra Winger den Wunsch ihres Mannes nach Grundbesitz und ei­nem eigenen Haus nur mit den düsteren Worten kommentiert: »Wir haben schon jetzt nicht genug Geld, um die Rechnungen zu bezahlen. Eine Hypothek bedeutet nur, daß wir ein Leben lang nicht genug Geld haben werden!«