IZ: 4 Die neue Physik:

Mit beiden Füßen fest auf dünner Luft.

Als ich in den 1960er-Jahren am College meinen Biologie-Abschluß machte, wußte ich, daß ich noch Physik als Nebenfach dazunehmen mußte, um bei einer der angesehenen Universitäten eine Chance zu haben. An meinem College wurde ein Physik-Einfüh­rungskurs angeboten, in dem grundlegende Themen wie Schwerkraft, Akustik, Hebel­kräfte und dergleichen so präsentiert wurden, daß sie auch von Nicht-Physikern verstan­den werden konnten. Es gab auch einen anderen Physik-Kurs über Quantenphysik, der jedoch von den meisten meiner Kommilitonen gemieden wurde wie die Pest. Die Quan­tenphysik war irgendwie geheimnisumwittert, und wir Biologen hielten sie für eine äu­ßerst merkwürdige Wissenschaft. Wir dachten, nur akademische Physiker, Masochisten und Verrückte würden fünf Punkte für einen Kurs riskieren, der auf der Grundlage auf­baute: »Jetzt siehst du es. Jetzt siehst du es nicht.«Damals hätte ich einen Kurs in Quantenphysik höchstens deshalb belegt, weil sich so et­was gut als originelle Anmache eignete. Zu Zeiten von Sonny und Cher wäre es nämlich äußerst schick gewesen, auf einer Party zu einem Mädchen zu sagen: »Na, Süße, ich studiere übrigens Quantenphysik – was für ein Sternzeichen bist du?« Andererseits hätte
das vermutlich auch nicht gezogen, denn ich sah kaum je einen Quantenphysiker auf diesen Partys – ich sah sie eigentlich überhaupt sehr selten. Sie schienen wenig vor die Tür zu kommen.

 

Ich wog die verschiedenen Optionen ab und belegte dann den Einführungskurs. Schließ­lich wollte ich Biologe werden und meine Karriere nicht durch irgendwelche abgehobe­nen Physiker riskieren, die für flüchtige Bosonen und Quarks schwärmten. Wie meine Kommilitonen beschäftigte ich mich während meines Biologiestudiums kaum mit Quantenphysik. Bei dieser Einstellung überrascht es nicht, daß wir herzlich wenig Ah­nung von physikalischen Formeln und mathematischen Bezügen hatten. Ich wußte et­was über Schwerkraft – schwere Objekte sinken und leichtere halten sich eher oben. Ich wußte etwas über Licht – Pflanzenpigmente wie Chlorophyll und visuelle Pigmente in der Netzhaut von Tieren absorbieren manche Farben des Lichts und sind »blind« für an­dere. Ich wußte sogar ein wenig Bescheid über Temperaturen – bei hohen Temperaturen werden biologische Moleküle inaktiv, weil sie schmelzen, während sie bei niedrigen Temperaturen einfrieren und erhalten bleiben. Ich übertreibe jetzt natürlich, aber der tra­ditionelle Biologe weiß tatsächlich wenig über Physik.

 

Als ich mich von der nukleuszentrierten Biologie abwandte und mich der Membran widmete, konnte ich die volle Bedeutung dieses Umschwungs noch nicht ermessen, weil ich keine Ahnung von Quantenphysik hatte. Ich wußte, dass integrale Membranpro­teine durch Umweltsignale dazu veranlaßt werden, die Zelle mit Energie zu versorgen. Da ich aber nichts über das Quantenuniversum wusste, konnte ich das Wesen dieser Um­weltsignale, die diesen Prozeß auslösen, nicht richtig deuten.

 

Erst 1982, mehr als zehn Jahre, nachdem ich die Universität abgeschlossen hatte, er­kannte ich, wie viel mir dadurch, daß ich den Kurs in Quantenphysik ausließ, entgangen war. Ich glaube, wenn ich ihn damals belegt hätte, wäre ich schon viel eher zum biologi­schen Revoluzzer mutiert. An jenem Tag im Jahre 1982 saß ich auf dem Boden einer Lagerhalle in Berkeley, Kalifornien, 1.500 Meilen weit von zu Hause entfernt, und be­klagte die Tatsache, dass ich mit dem vergeblichen Versuch, eine Rockʼn-Roll-Show auf die Beine zu stellen, meine wissenschaftliche Karriere ernsthaft gefährdet hatte. Meine Truppe und ich saßen in der Patsche – nach sechs Shows war unser gesamtes Geld futsch. Ich hatte kein Bargeld mehr, und wenn ich irgendwo mit meiner Kreditkarte be­zahlen wollte, zeigte das Lesegerät des Händlers einen Totenkopf an. Wir lebten von Kaffee und Donuts und arbeiteten uns durch Elisabeth Kübler-Rossʼ fünf Stufen der Trauer über den Tod unserer Show: Verleugnung, Wut, Verhandeln, Depression und zu­letzt Akzeptanz. [Kübler-Ross 1997]

 

In einem Augenblick der Akzeptanz wurde die Grabesstille in der düsteren Lagerhalle vom durchdringenden elektronischen Klingelton eines Telefons durchbrochen. Trotz des unablässigen, nervtötenden Signals ging keiner von uns dran – es konnte nicht für uns sein, niemand wusste, daß wir hier waren.Schließlich ging der Verwalter der Halle dran und stellte damit die gesegnete Stille wie­der her. In dieser Stille hörte ich, wie er sagte: »Ja, der ist hier.« Ich schaute auf, aus der dunkelsten Tiefe meines Lebens, und sah, wie er mir den Hörer reichte.

 

Es war jene Me­dizin-Hochschule in der Karibik, die mich vor zwei Jahren schon einmal angeheuert hatte. Der Direktor der Hochschule hatte zwei Tage damit verbracht, meine Spur von Wisconsin bis nach Kalifornien zu verfolgen, um mich zu fragen, ob ich Interesse hätte, noch mal dort Anatomie zu lehren. Ob ich Interesse daran hätte? »Wann brauchen Sie mich?«, fragte ich ihn. »Gestern«, war seine Antwort. Ich sagte, ich würde den Job gerne annehmen, bräuchte allerdings eine Vorauszahlung meines Gehalts. Die Schule schickte das Geld noch am gleichen Tag, und ich teilte das Geld mit meinen Geschäftspartnern. Dann flog ich zurück nach Madison, verabschiedete mich von meinen Töchtern, packte ein paar Sachen ein und war vierundzwanzig Stunden später am Flughafen, um ins Paradies zu fliegen.

 

Vielleicht fragen Sie sich, was meine fehlgeschlagene Karriere als Rockʼn Roller mit der Quantenphysik zu tun hat. Nun, ich habe einen etwas unorthodoxen Lehrstil. Den li­near Denkenden unter Ihnen sei jedoch versichert, daß es jetzt wieder um Quantenphy­sik geht, durch die ich erfreulicherweise gelernt habe, daß ein Wissenschaftler die Ge­heimnisse des Universums nicht durch lineares Denken verstehen kann.