IZ: 6.1 Die Biologie der Selbstverteidigung
Bruce H. Lipton: Intelligente Zellen
In mehrzelligen Organismen wird das Wachstums- bzw. Schutzverhalten durch das Nervensystem gesteuert. Die Aufgabe des Nervensystems besteht darin, die Umweltreize wahrzunehmen, zu interpretieren und eine angemessene Verhaltensreaktion zu organisieren. In einer mehrzelligen Gemeinschaft übernimmt das Nervensystem die Funktion der Regierung, die die Aktivitäten der zellulären Bürger organisiert.
Wenn das Nervensystem in seiner Umgebung eine Bedrohung wahrnimmt, alarmiert es die Zellgemeinschaft, um sie vor der Gefahr zu warnen. Der Körper besitzt zwei getrennte Schutzsysteme, die beide überlebenswichtig sind. Das erste ist das System zum Schutz gegen äußere Gefahren. Man nennt es die HHN-Achse (die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse).
Wenn keine Gefahr droht, ist die HHN-Achse inaktiv und das Wachstum gedeiht. Wenn der Hypothalamus jedoch eine äußere Gefahr wahrnimmt, sendet er durch die HHN-Achse ein Signal an die Hypophyse, die »Meister-Drüse«, in deren Verantwortung es liegt, die 50 Billionen Zellen der Gemeinschaft in Bezug auf diese Gefahr hin zu organisieren.
Denken Sie an die Rezeptor-/Effektor-Proteine der Zellmembran – der Hypothalamus und die Hypophyse sind unsere Äquivalente. Ähnlich wie das Rezeptor-Protein empfängt und erkennt der Hypothalamus Umweltsignale, während die Aufgabe der Hypophyse den Effektor-Proteinen ähnelt, weil sie den Körper in Aktion versetzt.
Die Hypophyse reagiert auf die wahrgenommene Bedrohung, indem sie ein Signal an die Adrenalindrüsen sendet, das diese veranlaßt, die »Flucht oder Kampf«-Reaktion des Körpers zu koordinieren.Technisch gesehen folgt dieser Prozeß einer einfachen Kaskade: Auf die Wahrnehmung von Streß durch das Gehirn hin setzt der Hypothalamus CRF (Corticotropin-releasing factor) frei, das zur Hypophyse wandert. CRF aktiviert bestimmte Zellen in der Hypophyse, die ACTH (Adrenocorticotropes Hormon) ins Blut ausschütten. ACTH wandert dann zu den Adrenalindrüsen und signalisiert ihnen, Adrenalin-Hormone freizusetzen.
Diese Streß-Hormone koordinieren die Funktion der Körperorgane und verleihen uns für die Flucht oder den Kampf zusätzliche Körperkraft.
Wenn der Adrenalin-Alarm ausgelöst wurde, kontrahieren die Streßhormone die Blutgefäße im Verdauungstrakt, damit das nährende Blut bevorzugt die Arme und Beine versorgt, die uns aus der Gefahrenzone bringen können.
Normalerweise ist das Blut eher in den Eingeweiden konzentriert. Wenn es von dort in die Extremitäten geschickt wird, um eine Kampf- oder Fluchtreaktion zu unterstützen, werden die Wachstumsprozesse reduziert, denn ohne die entsprechende Blutversorgung können die Eingeweide nicht richtig funktionieren.
Diese unterbrechen ihre lebenserhaltende Arbeit wie Verdauung, Absorption und Ausscheidung, die für das Wachstum der Zellen und für die Bildung von Energiereserven verantwortlich sind. Die Streß-Reaktion behindert also die Wachstumsprozesse und das Überleben des Körpers, weil sie die Bildung lebenswichtiger Energiereserven stört.
Das zweite Schutzsystem des Körpers ist das Immunsystem, welches uns vor Gefahren schützt, die unter unserer Haut stecken, zum Beispiel hervorgerufen durch Bakterien und Viren. Wenn das Immunsystem mobilisiert wird, kann es eine Menge Körperenergie verbrauchen.
Erinnern Sie sich nur daran, wie schwach Sie sich fühlen, wenn Ihr Immunsystem gegen eine Erkältung ankämpft. Wenn die HHN-Achse den Körper auf eine Kampf- oder Fluchtreaktion vorbereitet, unterdrücken die Adrenalin-Hormone das Immunsystem des Körpers, um Energie zu sparen.
Die Streßhormone sind bei der Unterdrückung des Immunsystems so wirksam, daß sie von Ärzten bei Transplantationen eingesetzt werden, um eine Immunreaktion auf das Fremdgewebe zu vermeiden.
Warum unterdrückt das Adrenalinsystem das Immunsystem? Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in Afrika in Ihrem Zelt und leiden unter einer durchfallverursachenden Bakterieninfektion. Plötzlich hören Sie draußen das Knurren eines Löwen. Ihr Gehirn muß sich entscheiden, welches die größere Bedrohung ist. Es nützt Ihrem Körper gar nichts, die Bakterien zu besiegen, wenn er in der Zwischenzeit von einem Löwen verspeist wird.
Also unterbricht der Körper seinen Kampf gegen die Infektion, um seine Energie dafür einzusetzen, dem Löwen zu entkommen. Eine sekundäre Folge der aktiven HHN-Achse ist also, daß sie unsere Fähigkeit der Krankheitsabwehr mindert.
Die Aktivierung der HHN-Achse schränkt auch unsere Fähigkeit ein, klar zu denken. Die Umsetzung von Information im Vorderhirn, dem Bereich der Vernunft und der Logik, ist sehr viel langsamer als die reflexhafte Aktivität des Hinterhirns. In einem Notfall kann eine möglichst schnelle Informationsverarbeitung möglicherweise lebensrettend sein.
Die Streßhormone verengen die Blutgefäße im Vorderhirn und reduzieren damit seine Funktionsfähigkeit. Außerdem unterdrücken diese Hormone die Aktivität der vorderen Großhirnrinde, dem Zentrum des bewußten, willentlichen Handelns. In einer Gefahrensituation unterstützt der Blutfluß und die Hormonwirkung die Aktivierung des Hinterhirns, aus dem die lebenserhaltenden Reflexe stammen, die unser Kampf- oder Fluchtverhalten am wirkungsvollsten steuern.
Nun ist es zwar notwendig, daß die Streßsignale das langsame bewußte Denken unterdrücken, um das Überleben zu sichern, das funktioniert aber nur um den Preis einer geminderten bewußten Wahrnehmung und einer reduzierten Intelligenz [Takamatsu et al., 2003; Arnsten und Goldman-Rakic 1998; Goldstein et al., 1996].
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