IZ: 7.8 Bewußte Elternschaft

Früher schloß ich meine Vorträge mit dem Hinweis, daß wir für alles in unserem Leben persönlich verantwortlich sind. Mit einer solchen Schlußbemerkung habe ich mich nicht besonders beliebt gemacht, für manche Menschen war das einfach zu viel. Nach einem meiner Vorträge war eine ältere Frau darüber so aufgebracht, daß sie mit ihrem Mann hinter die Bühne kam und mir tränenreich widersprach. Sie wollte nicht für die Tragödi­en verantwortlich sein, die sich in ihrem Leben abgespielt hatten. Diese Frau überzeugte mich, so daß ich mich entschloß, mein Fazit am Ende des Vortrags zu ändern. Ich wollte ja schließlich niemandem Schuldgefühle einreden, zumal wir uns in unserer Gesell­schaft sowieso schon ständig in Schuldgefühlen wälzen oder Unschuldige zum Sünden­bock für einen Mißstand machen. Aber es war andererseits auch nicht zu leugnen, daß wir durch die Erkenntnisse, die wir im Laufe des Lebens sammeln, lernen, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Nachdem wir eine Weile diskutiert hatten, kam ich mit der Zuhörerin zu folgender Einigung: Wir sind für alles in unserem Leben ver­
antwortlich, sobald wir erkannt haben, daß wir für alles verantwortlich sind. Niemand ist »schuld« für das, was er bei seinen Kindern hätte besser machen können, wenn er es nicht vorher wußte. Sobald Sie sich dieser Informationen aber bewußt sind, gilt es, sie anzuwenden und Ihr Verhalten umzuprogrammieren.Und wenn wir schon mal bei den Mythen über Elternschaft sind: Es ist absolut unwahr, daß Sie für alle Ihre Kinder die gleichen Eltern sind. Ihr zweites Kind ist kein Klon des ersten. In Ihrer Welt geschehen heute andere Dinge als damals, als Ihr erstes Kind gebo­ren wurde. Wie bereits erwähnt, glaubte ich einst selbst, ich sei meinen beiden Kindern
der gleiche Vater gewesen. Doch als ich mein Verhalten genauer betrachtete, stellte ich fest, daß das nicht stimmte. Als mein erstes Kind geboren wurde, begann ich gerade meine Universitätslaufbahn, was für mich eine schwierige Zeit mit sehr viel Arbeit und großer materieller Unsicherheit bedeutete. Als meine zweite Tochter auf die Welt kam,
hatte ich schon mehr Selbstbewußtsein gewonnen, ich fühlte mich sicherer als Wissen­schaftler und war bereit für meine akademische Karriere. Also hatte ich mehr Zeit und psychische Energie, um meiner zweiten Tochter ein guter Vater zu sein und mich zu­gleich intensiver um meine erste Tochter zu kümmern, die damals im Krabbelalter war.
Ein weiterer Mythos, den ich gerne ansprechen möchte, ist die Idee, daß Kleinkinder viel Anregung in Form von Lernspielzeug brauchen, das angeblich ihre Intelligenz stei­gern soll. Das inspirierende Buch von Michael Mendizza und Joseph Chilton Pearce NEUE KINDER, NEUE ELTERN macht deutlich, daß Spielen, nicht Programmierung der Schlüssel zu besserer Lern- und Leistungsfähigkeit bei Kindern ist [Mendizza und Pear­ce 2001]. Kinder brauchen Eltern, die ganz bewußt die Neugier, die Kreativität und das Staunen fördern, mit dem Kinder ihrer Welt begegnen.Was Menschenjunge in ihrer Entwicklung offensichtlich brauchen, ist »Nahrung« in Form von Liebe und der Möglichkeit, erwachsene Menschen dabei zu beobachten, wie sie ihrem täglichen Leben nachgehen. Kinder aus Waisenhäusern, die nur physisch er­nährt und nie angelächelt oder umarmt werden, zeigen schwerwiegende Entwicklungs­störungen. Eine Studie aus rumänischen Waisenhäusern von Mary Carlson, einer Neu­robiologin der Harvard Medical School, beobachtete, daß der Mangel an Berührung und Aufmerksamkeit in rumänischen Waisenhäusern und sehr schlecht ausgestatteten Kin­dertagesstätten das Wachstum der Kinder behindert und ihr Verhalten negativ beein­flußt. Carlson begleitete sechzig Kinder von wenigen Monaten bis zum Alter von drei
Jahren und maß ihren Cortisolspiegel in Speichelproben. Je stärker ein Kind unter Streß stand, was durch einen erhöhten Cortisolspiegel ablesbar war, desto schlechter waren seine Entwicklungschancen [Holden 1996].
Carlson und andere haben auch Affen und Ratten untersucht und deutliche Zusammen­hänge zwischen der Berührungshäufigkeit, der Ausschüttung von Cortisol und der sozi­alen Entwicklung festgestellt. Studien von James W. Prescott, dem früheren Direktor der Abteilung für Gesundheit und Entwicklung von Kindern der amerikanischen Bun­desgesundheitsbehörde, hat beobachtet, daß neugeborene Affen, die weder Körperkon­
takt mit ihrer Mutter noch sozialen Kontakt mit anderen haben, abnorme Streßprofile entwickeln und zu gewalttätigen Soziopathen werden [Prescott 1996 und 1990].Nach diesen Ergebnissen führte er eine Studie durch, wie Menschen ihre Kinder aufzie­hen. Er stellte fest, daß eine Kultur friedlich ist, in der Kinder geliebt werden, viel Kör­perkontakt haben und ihre Sexualität nicht unterdrückt wird. Friedliche Kulturen haben Eltern, die ihre kleinen Kinder den ganzen Tag in ihrer Nähe haben oder an ihrem Kör­per tragen. In Gesellschaften, die ihren Kindern diesen Kontakt verweigern, gibt es da­gegen deutlich mehr Gewalt. Ein weiterer Unterschied besteht darin, daß in den Bevöl­kerungen, in denen Kinder wenig Berührung erfahren, viele Menschen unter somatosen­sorischen Gemütsstörungen leiden. Diese Störungen sind beispielsweise durch die Un­fähigkeit gekennzeichnet, aufwallende Streßhormonschübe zu unterdrücken, ein Vor­läufer von Gewalttätigkeit. Diese Erkenntnisse geben Aufschluß über die Gewalt, die in den USA vorherrscht. Un­sere medizinischen und psychologischen Institutionen neigen dazu, von Körperkontakt mit Kindern eher abzuraten, statt ihn zu fördern. Das beginnt bereits mit dem unnatürli­chen Einschreiten der Ärzte in den natürlichen Prozeß der Geburt, mit der Trennung der Neugeborenen von ihren Eltern in abgelegene Säuglingszimmer und mit dem Rat an die Eltern, ihr Kind nicht zu verwöhnen, indem sie auf jedes Schreien eingehen. Solche Praktiken, die angeblich wissenschaftlich begründet sind, tragen zweifellos zu der Ge­
walt in unserer Gesellschaft bei. Auf der Website http://www.violence.de finden Sie mehr Informationen über den Zusammenhang zwischen Berührung und Gewalt.Doch was ist mit den rumänischen Kindern, die trotz der Vernachlässigung unbeschadet bleiben und die ein Forscher die »unverwüstlichen Wunderkinder« nannte? Warum ge­lingt es manchen Kindern, sich trotz schwieriger Umstände gut zu entwickeln? Haben sie »bessere« Gene? Mittlerweile wissen Sie sicher, daß ich das nicht glaube. Es er­scheint mir wahrscheinlicher, daß die biologischen Eltern dieser »Wunderkinder« ihnen doch in entscheidenden Entwicklungsphasen ein nährendes Umfeld geboten haben.Für Adoptiveltern bedeutet das, daß sie nicht so tun können, als hätte das Leben ihres Kindes erst begonnen, als es zu ihnen kam. Das Kind wurde vielleicht bereits von sei­nen biologischen Eltern mit der Überzeugung programmiert, daß es nicht liebenswert oder gar unerwünscht ist. Wenn das Kind Glück hat, erhält es vielleicht an entscheiden­den Punkten seiner Entwicklung positive, lebensfördernde Botschaften von seinen Be­treuern. Wenn Adoptiveltern jedoch nicht berücksichtigen, daß es bereits eine Program­mierung vor und während der Geburt gab, können sie mit Problemen nach der Adoption nicht entsprechend gut umgehen. Das Kind kommt eben nicht wie ein unbeschriebenes Blatt Papier zu ihnen, nicht einmal ein Neugeborenes. Es ist besser, man berücksichtigt die Programmierung und arbeitet, wenn nötig, daran, sie zu ändern.Sowohl für Adoptiv- als auch für biologische Eltern ist die Botschaft klar: Die Gene der Kinder weisen nur auf ihr Potential hin, nicht auf ihr Schicksal. Es liegt an den Eltern, ihnen die Umgebung zu geben, in der sie ihr Potential entfalten können.Bitte beachten Sie, ich habe nicht gesagt, daß Eltern viele Bücher über Elternschaft le­sen müssen. Ich bin vielen Menschen begegnet, die sich intellektuell zu den Ideen hin­gezogen fühlen, die ich in diesem Buch präsentiere. Aber intellektuelles Interesse
diesem Buch steht, durchaus bewußt, doch erst als ich mich um Veränderungen bemüh­te, gewann es Einfluß auf mein Leben. Wenn Sie einfach nur dieses Buch lesen und meinen, daß sich dadurch Ihr Leben und das Leben Ihrer Kinder ändern wird, dann ist das genauso, als schluckten Sie die neueste pharmazeutische Wunderpille in der Erwar­tung, daß dann alles gut wird. Nichts wird gut, solange man sich nicht um praktische Veränderung bemüht.
Ich möchte Sie herausfordern: Lassen Sie alle unbegründeten Ängste los und achten Sie darauf, Ihren Kindern keine unnötigen Ängste und einschränkenden Überzeugungen einzuimpfen. Vor allem, unterwerfen Sie sich nicht der fatalistischen Botschaft des ge­netischen Determinismus. Sie können Ihren Kindern helfen, ihr volles Potential zu errei­chen, und Sie können dadurch gleichzeitig Ihr persönliches Leben verändern. Sie sind nicht auf Gedeih und Verderb Ihren Genen ausgeliefert. Nutzen Sie die Lehren der Zel­len über Wachstum und Schutz und gehen Sie mit Ihrem Leben so oft wie möglich in eine Wachstumshaltung. Denken Sie daran, daß für uns Menschen Wachstum nicht un­bedingt durch die modernste Schule, das teuerste Spielzeug oder den bestbezahlten Job entsteht. Lange vor der Entwicklung der Zellbiologie und vor wissenschaftlichen Studi­en über vernachlässigte Waisenkinder und über bewußte Elternschaft, wußte der persi­sche Dichter Rumi, daß das Wachstum kleiner und großer Menschen am besten durch Liebe gefördert wird.

  • Ein Leben ohne Liebe zählt nicht
  • Liebe ist das Wasser des Lebens
  • Trinke es von ganzem Herzen und mit ganzer Seele!