Prolog

Quito, die Hauptstadt Ecuadors, liegt in einem Vulkantal hoch in den Anden auf einer Höhe von 2850 Metern. Auf den Gipfeln, die das Tal umgeben, liegt Schnee. Die Bewohner der Stadt, die lange vor Kolumbus’ Ankunft gegründet wurde, sind an den Anblick gewöhnt, obwohl sie nur wenige Kilometer südlich des Äquators leben. Fast 2600 Meter tiefer liegt mitten im gerodeten Regenwald die Shell-Stadt, ein Militärstützpunkt und Vorposten der Zivilisation in der Wildnis. Die Stadt dient der gleichnamigen Ölgesellschaft und wird vorwiegend von Soldaten und Ölarbeitern bewohnt. Zudem leben Indianerinnen und Indianer der Shuar- und Kichwa-Stämme in der Stadt, sie arbeiten als Prostituierte und Hilfsarbeiter.


Die Fahrt von einer Stadt zur anderen ist zugleich mühevoll und atemberaubend schön. Die Einheimischen sagen, daß man an einem einzigen Tag alle vier Jahreszeiten erlebt. Obwohl ich die Strecke oft gefahren bin, werde ich nie müde, die atemberaubende Landschaft zu bestaunen. Auf der einen Seite erheben sich steile Felsen, hier und da gesprenkelt von einem Wasserfall und Bromelien. Auf der anderen Seite geht es fast senkrecht hinab in eine tiefe Schlucht, in der sich der Pastaza, ein Quellfluß des Amazonas, durch die Anden schlängelt. Der Pastaza führt Wasser von den Gletschern am Cotopaxi, einem der höchsten aktiven Vulkane der Welt, der vom Atlantischen Ozean über 4800 Kilometer entfernt ist. Zu Zeiten der Inka wurde der Vulkan als Gottheit verehrt. 2003 verließ ich Quito in einem Subaru Outback und fuhr nach Shell. Ich hatte einen Auftrag, der völlig anders war als die Aufträge, die ich bisher angenommen hatte. Ich hoffte, einen Krieg zu beenden, zu dessen Entstehung ich beigetragen hatte. Wie bei vielem, für das wir EHM verantwortlich sind, ist das ein Krieg, der außerhalb des Lan-
des kaum wahrgenommen wird. Ich war auf dem Weg zu einem Treffen mit den Shuars, den Kichwas und ihren Nachbarn, den Achuars, Zaparos und den Shiwiars – alles Stämme, die entschlossen waren, die Ölgesellschaften davon abzuhalten, ihre Häuser, Familien und ihr Land zu zerstören, selbst wenn das bedeutete, daß sie dafür sterben mußten. Für sie geht es in diesem Krieg um das Überleben ihrer Kinder und ihrer Kultur, für uns hingegen geht es um Macht, Geld und Rohstoffe. Dieser Krieg ist ein Teil des Kampfes um die Weltherrschaft und Ausdruck des Traumes einiger weniger gieriger Männer von einem Weltreich. Das ist die eigentliche Kompetenz der EMH: Wir bauen ein Weltreich auf. Wir sind eine Elite aus Frauen und Männern, die internationale Finanzorganisationen dazu benutzen, jene Bedingungen zu schaffen, mit denen andere Länder der Korporatokratie unterworfen werden sollen. Und diese Korporatokratie beherrscht unsere größten Konzer-
ne, unsere Regierung und unsere Banken. Wie unsere Pendants in der Mafia bieten wir EHM einen Dienst oder eine Gefälligkeit an. Das kann zum Beispiel ein Kredit zur Entwicklung der Infrastruktur sein: Stromkraftwerke, Schnellstraßen, Häfen, Flughäfen oder Gewerbeparks. An den Kredit ist die Bedingung geknüpft, daß Ingenieurfirmen und Bauunternehmer aus unserem Land all diese Projekte bauen. Im Prinzip verläßt ein
Großteil des Geldes nie die USA, es wird einfach von Banken in Washington an Ingenieurbüros in New York, Houston oder San Francisco überwiesen. Obwohl das Geld also fast umgehend an Unternehmen zurückfließt, die zur Korporatokratie (dem Geldgeber) gehören, muß das Empfängerland alles zurückzahlen, die Schuldsumme plus Zinsen. Wenn ein EHM richtig erfolgreich ist, dann sind die Kredite so hoch, daß der Schuldner nach einigen Jahren seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann. Dann verlangen wir wie die Mafia unseren Anteil. Dazu gehören vor allem: die Kontrolle über die Stimmen in der UNO, die Errichtung von Militär-
stützpunkten oder der Zugang zu wichtigen Ressourcen wie Öl oder die Kontrolle über den Panamakanal. Natürlich erlassen wir dem Schuldner dafür nicht die Schulden – und haben uns so wieder ein Land dauerhaft unterworfen.


Auf der Fahrt von Quito nach Shell an diesem sonnigen Tag im Jahr 2003 dachte ich an die Zeit vor 35 Jahren zurück, als ich zum ersten Mal in diesen Teil der Welt kam. Ich hatte gelesen, daß Ecuador zwar nur etwa so groß wie Nevada ist, aber über 30 aktive Vulkane hat, daß dort über 15% der Vogelarten der Erde leben und es Tausende, noch gar nicht klassifizierte Pflanzen gibt. Im Land leben viele verschiedene Kulturen, Indio-
Sprachen werden fast so häufig wie Spanisch gesprochen. Ich fand das alles faszinierend und sehr exotisch; doch die Wörter, die mir immer wieder einfielen, waren rein, unberührt und unschuldig. In 35 Jahren hat sich vieles verändert.


Bei meinem ersten Besuch 1968 hatte Texaco gerade erst Öl in der Amazonasregion von Ecuador entdeckt. Heute macht Öl fast die Hälfte der Exporte von Ecuador aus. Eine Pipeline über die Anden, die kurz nach meinem ersten Besuch gebaut wurde, hat seitdem über eine halbe Million Barrel Öl durch Lecks abgegeben und den empfindli-
chen Regenwald verschmutzt – das ist mehr als doppelt so viel wie die Menge, die beim Tankerunglück der Exxon Valdez auslief.6 Heute verspricht eine neue, 1,3 Milliarden Dollar teure und 480 Kilometer lange Pipeline, die von einem von EHM organisierten Konsortium gebaut wird, Ecuador zu einem der zehn größten Öllieferanten der USA zu machen.7 Riesige Regenwaldflächen wurden gerodet, Aras und Jaguare sind fast verschwunden, drei ecuadorianische Indiokulturen stehen kurz vor dem Zerfall und jungfräuliche Flüsse wurden in Abwasserkanäle voll ätzender Brühe verwandelt. Doch die Indios begannen sich zu wehren. So verklagte zum Beispiel am 7. Mai 2003 eine Gruppe amerikanischer Anwälte, die über 30.000 ecuadorianische Indios vertreten, Chevron Texaco auf eine Milliarde Dollar. Die Kläger behaupten, daß der Ölmulti zwischen 1971 und 1992 jeden Tag über 18 Millionen Liter giftige Abwässer, die mit Öl, Schwermetallen und krebserregenden Stoffen belastet waren, in offene Löcher und Flüsse gepumpt habe. Das Unternehmen hinterließ fast 350 offene Deponien, durch die weiterhin Menschen und Tiere zu Tode kommen. Durch die Windschutzscheibe sah ich, wie große Nebelschwaden aus den Wäldern rollten und die Canyons des Pastaza hinaufstiegen. Mein Hemd war schweißnaß, und mein Magen rebellierte, was aber nicht nur an der ungeheuren tropischen Hitze und den Serpentinen der Straße lag. Ich wußte, welche Rolle ich bei der Zerstörung dieses schönen Landes gespielt hatte, und das forderte seinen Tribut. Wegen meiner EHM-Kollegen und mir ist Ecuador heute in einer viel schlechteren Verfassung als früher, bevor wir dem Land die Wunder der modernen Wirtschaftslehre, der Banken und der Ingenieurskunst beschert haben. Seit 1970, einer Zeit, die euphemistisch als Ölboom bezeichnet wird, stieg die offizielle Armutsgrenze von 50% auf 70%, die Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung kletterte von 15% auf 70% und die öffentliche Verschuldung
von 240 Millionen Dollar auf 16 Milliarden Dollar. Der Anteil, den die ärmsten Schichten der Bevölkerung an den nationalen Ressourcen besitzen, ging von 20% auf 6% zurück. Leider ist Ecuador keine Ausnahme. Fast jedes Land, das wir EHM unter die Kontrolle des globalen Imperiums gebracht haben, erlitt ein ähnliches Schicksal.10 Die Verschuldung der Dritten Welt ist auf über 2,5 Billionen Dollar angewachsen, und die Kosten, die Kreditgeber zu bedienen (2004 waren das über 375 Milliarden Dollar pro Jahr) sind höher als der Betrag, den alle Drittweltländer zusammen für Gesundheit und Bildung ausgeben, und zwanzigmal höher als die Summe, die Entwicklungsländer jedes Jahr an ausländischer Hilfe erhalten. Über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt von weniger als 2 Dollar am Tag, was ungefähr der Summe entspricht, die sie Anfang der siebziger Jahre erhielten. Mittlerweile hält das oberste 1% der Haushalte in Drittweltländern 70 bis 90% des privaten Vermögens und der Immobilien in ihrem Land, die genaue Prozentzahl hängt vom jeweiligen Land ab. Der Subaru wurde langsamer und schlängelte sich durch die Straßen des Urlaubsortes Baños, der berühmt für seine heißen Bäder in unterirdischen vulkanischen Flüssen ist die vom sehr aktiven Tungurahua gespeist werden. Dann ließen wir Baños hinter uns. Die spektakulären Ausblicke endeten jäh, denn nun ließ der Subaru das Paradies hinter sich und näherte sich einer modernen Version von DDaanntteess INFERNO. Aus dem Fluß ragte ein gigantisches Monstrum, eine mammutgraue Wand. Der tropfende Beton wirkte hier völlig fehl am Platz, war unnatürlich und paßte nicht zur Landschaft. Eigentlich kam der Anblick nicht überraschend. Ich wußte schon die ganze Zeit,
daß diese Mauer mich hier erwartete. Ich hatte sie schon oft gesehen und sie früher als ein Symbol für die Leistungen der EHM gerühmt. Trotzdem bekam ich eine Gänsehaut. Die scheußliche Mauer ist ein Staudamm, der den rauschenden Pastaza aufstaut und das Wasser durch riesige Tunnel leitet, die durch den Berg gebohrt wurden und in denen mit Wasserkraft Elektrizität erzeugt wird: das 156 Megawatt-Wasserkraftwerk von Agoyan.
Es versorgt die Industrien mit Strom, die eine Hand voll ecuadorianischer Familien reich machen. Für die Bauern und Indios, die am Fluß leben, ist das Kraftwerk eine Quelle unsäglichen Leids. Und dies ist nur eines von vielen Projekten, die aufgrund meiner Arbeit und der anderer EHM verwirklicht wurden. Solche Projekte sind der
Grund dafür, warum Ecuador heute zum globalen Imperium gehört, und dafür, warum die Shuar und Kichwa und ihre Nachbarn den Ölgesellschaften mit Krieg drohen.


Wegen der EHM-Projekte ist Ecuador im Ausland hochverschuldet und muß einen unverhältnismäßig hohen Anteil seines nationalen Haushalts für Zinsen und Tilgung aufwenden, statt das Geld für die Millionen Bürger zu verwenden, die offiziell unterhalb der Armutsgrenze leben. Ecuador kann seinen Auslandsverpflichtungen nur nachkommen, indem es Regenwald an die Ölgesellschaften verkauft. Öl war natürlich einer der Gründe, warum die EHM Ecuador ins Visier nahmen. Man schätzt, daß die Ölvorkommen unter der Amazonasregion von Ecuador mit den Ölfeldern im Mittleren Osten zu vegleichen ist. Das globale Imperium fordert seinen Anteil in Form von Bohrgenehmigungen.


Die Forderungen wurden nach dem 11. September 2001 besonders dringend, denn damals fürchtete Washington, die Ölversorgung aus dem Mittleren Osten könnte versiegen. Dazu kam noch, daß in Venezuela, dem drittgrößten Öllieferanten der USA, vor kurzem ein vor allem bei den unteren und mittleren Bevölkerungsschichten beliebter
Präsident gewählt worden war. Hugo Chávez vertrat gegen den amerikanischen Imperialismus, wie er es nannte, eine harte Haltung und drohte, den Ölverkauf an die USA einzustellen. Die EHM waren im Irak und in Venezuela gescheitert, hatten aber in Ecuador Erfolg gehabt, nun wollten wir das Land in aller Ruhe zu Tode melken. Ecuador ist ein typisches Beispiel für Länder auf der ganzen Erde, die EHM unter ihre Kontrolle gebracht haben. Von 100 Dollar für Rohöl, das im ecuadorianischen Regenwald gewonnen wird, erhalten die Ölgesellschaften 75 Dollar. Von den verbleibenden 25 Dollar müssen drei Viertel zur Tilgung der Auslandsschulden verwendet werden.
Der Rest wird größtenteils fürs Militär und andere Staatsausgaben gebraucht – damit bleiben 2,50 Dollar für Gesundheit, Bildung und Programme zur Unterstützung der Armen. So gehen von 100 Dollar, die mit Öl aus dem Amazonasgebiet verdient werden, nicht einmal 3 Dollar an die Menschen, die das Geld am nötigsten brauchen, deren Leben durch die Staudämme, die Bohrungen und die Pipelines beeinträchtigt wird und die sterben, weil sie keine gesunden Lebensmittel und kein Trinkwasser haben.


All diese Menschen – Millionen in Ecuador, Milliarden auf der ganzen Welt – sind potentielle Terroristen. Nicht weil sie an den Kommunismus oder Anarchismus glauben oder von Natur aus böse sind, sondern ganz einfach, weil sie verzweifelt sind. Ich betrachtete den Damm und fragte mich wie schon so oft, wann diese Menschen aufbegehren würden, so wie sich die Amerikaner 1773 gegen die Briten erhoben oder Anfang des 19. Jahrhunderts die Menschen in Lateinamerika gegen die Spanier.


Die Raffinesse, mit dem dieses moderne Reich aufgebaut wird, stellt die römischen Zenturionen, die spanischen Konquistadoren und die europäischen Kolonialmächte des 18. und 19. Jahrhunderts bei weitem in den Schatten. Wir EHM sind schlau, wir haben aus der Geschichte gelernt. Wir tragen keine Schwerter mehr. Wir tragen keine Rüstung oder Kleidung, die uns verraten könnte. In Ländern wie Ecuador, Nigeria oder Indonesien kleiden wir uns wie Schullehrer und Ladenbesitzer. In Washington und Paris sehen wir wie Regierungsbeamte oder Banker aus. Wir wirken bescheiden und normal. Wir besuchen Projekte und schlendern durch verarmte Dörfer. Wir bekunden Altruismus und sprechen mit den Lokalzeitungen über die wunderbaren humanitären Leistungen, die wir vollbringen. Wir bedecken die Konferenztische von Regierungsausschüssen mit Tabellen und finanziellen Hochrechungen und halten an der Harvard Business School Vorlesungen über die Wunder der Makroökonomie. Wir sind stets präsent und agieren ganz offen. Oder zumindest stellen wir uns so dar und werden so akzeptiert. So funktioniert das System. Wir greifen selten zu illegalen Mitteln, weil das System auf Täuschung basiert, und das System ist von der Definition her legal.


Aber (und das ist ein sehr starkes »Aber«) wenn wir scheitern, greift eine ganz besonders finstere Truppe ein, die wir EHM als Schakale bezeichnen – Männer, die die direkten Erben dieser frühen Weltreiche sind. Die Schakale sind immer da, sie lauern im Schatten. Wenn sie auftauchen, werden Staatschefs gestürzt oder sterben bei »Unfäl-
len«.14 Und wenn die Schakale versagen sollten, wie zum Beispiel in Afghanistan oder im Irak, dann muß doch wieder das alte Modell herhalten. Dann werden junge Amerikaner in den Krieg geschickt, um zu töten und zu sterben.


Als ich an dem Monstrum vorbeifuhr, der riesigen massiven Mauer aus grauem Beton, die sich aus dem Fluß erhob, spürte ich deutlich meine schweißnassen Kleider. Mein Magen zog sich zusammen. Ich war unterwegs in den Dschungel, um mich mit Indios zu treffen, die entschlossen waren, bis zum letzten Mann zu kämpfen und dieses Imperium aufzuhalten, das ich miterschaffen hatte. Ich wurde von Schuldgefühlen gepeinigt. Wie, fragte ich mich, schliddert ein netter Junge aus dem ländlichen New Hampshire in so schmutzige Geschäfte hinein?