Erste Antimaterie – das Positron

So war Ende der Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts endlich geklärt worden, dass die sekundäre Kosmische Strahlung, die wir an der Erdoberfläche messen können, keine ultrahochenergetische γ-Strahlung ist, sondern eine Teilchenstrahlung, über deren genauere Eigenschaften man sich noch nicht völlig klar war, man vermutete aber vor allem Elektronen und Protonen, die durch die primäre Kosmische Strahlung aus den Molekülen der Luft geschlagen wurden.

 

Nicht überzeugen ließ sich der Amerikaner Robert Andrews Millikan, der noch immer überzeugt war, dass die primäre Kosmische Strahlung eine γ-Strahlung war, die auf ihrem Weg durch die Atmosphäre eine sekundäre Partikelstrahlung erzeugte.

 

Um dieses Phänomen genauer zu untersuchen, setzte er einen seiner Studenten auf eine neue Detektortechnologie an, die in Russland von einem jungen Physiker Dmitry Skobeltzyn aus Leningrad entwickelt wurde. Skobeltzyn hatte es sich 1924 als Ziel gesetzt, mit Hilfe der Wilson’schen Nebelkammer die Spuren von Elektronen aufzuzeichnen, die die vermeintliche kosmische Ultragammastrahlung aus den Luftatomen seiner Nebelkammer schlug.

 

Dabei hatte er das Problem, dass Elektronen, die aus der metallischen Wand der Nebelkammer stammten, die Spuren der Elektronen, die aus dem Gas stammten, überlagerten und die Ergebnisse schwerer zu analysieren machten. Daher entschied er sich dazu, mit Hilfe eines starken Elektromagneten die Elektronen, die aus der Gefäßbewandung stammten, aus dem Kammervolumen hinauszulenken (das geht deswegen, weil bewegte elektrisch geladene Körper im magnetischen Feld eine Kraft normal auf die Bewegungsrichtung erfahren, die sogenannte Lorentzkraft, und daher auf einer Kurve abgelenkt werden). Trotz der starken Magneten, die Skobeltzyn verwendete, blieben immer noch einige Teilchen über, deren Bahnspuren kaum gekrümmt waren.

 

Skobeltzyn erklärte sich diese seltsamen Spuren mit hochenergetischen Elektronen, die gerade von der Kosmischen Strahlung aus den Atomen geschlagen wurden. Tatsächlich aber, und ohne es zu wissen, war er der erste Mensch, der die sekundäre Kosmische Strahlung selbst nachgewiesen hatte. Jedenfalls verfolgte Skobeltzyn diese Experimente nicht mehr weiter, aber Robert Andrews Millikan sah in ihnen noch einiges Potential.

 

Er beauftragte also seinen frisch promovierten Assistenten Carl David Anderson, eine Wilson’sche Nebelkammer zu bauen, sie mit einem starken Elektromagneten zu versehen und die Kosmische Strahlung zu beobachten. Die großartige Leistung Carl David Anderson bestand darin, im Zwischenkriegsamerika in der Zeit der Wirtschaftskrisen tatsächlich eine Nebelkammer zu bauen, diese mit einem wassergekühlten Elektromagneten zu versehen, der zehnmal so stark war wie jener, den Skobeltzyn konstruiert hatte, und damit bis auf den 4300 Meter hohen Pike’s Peak zu fahren.

 

Die Ergebnisse dieser Messungen waren überraschend und entsprachen keineswegs den Erwartungen des Experimentators oder des Auftraggebers. Es stellte sich nämlich heraus, dass die sekundäre Kosmische Strahlung zu gleichen Teilen aus positiven und negativen Teilchen zu bestehen schien, da zu etwa gleichen Teilen Teilchenbahnen gefunden wurden, die nach links und die nach rechts gekrümmt waren.

 

Millikan war der Überzeugung, dass es sich bei den positiven Teilchen um Protonen handeln musste, die von der ultrahochenergetischen kosmischen γ-Strahlung aus den Atomkernen der Atmosphäre geschlagen worden sein mussten, denn andere positive Teilchen konnte er sich nicht vorstellen.

 

Anderson lehnte diese Erklärung jedoch vehement ab, da er sehen konnte, dass es sich in keinem Fall um Protonen handeln konnte. Die Bahnen der positiven Teilchen waren ähnlich stark gekrümmt wie die der negativen. Damit die massereichen Protonen gleich stark abgelenkt werden, wie die leichten Elektronen, müssen sie viel langsamer unterwegs sein. Wenn sie aber langsamer waren, dann musste auch die Ionisationsdichte entlang ihres Weges viel höher sein; dafür gab es aber keinen Hinweis.

 

Daher meinte Anderson, dass es sich nicht um Protonen handeln konnte, sondern es mussten Elektronen sein, die sich nicht von oben nach unten durch die Nebelkammer bewegten, sondern von unten nach oben. Diese Erklärung wiederum lehnte Millikan ab, der nicht einsah, warum Kosmische Strahlung plötzlich von unten her anstatt vom Himmel kommen sollte.

 

Um den Streit zu schlichten fügte Anderson in die Mitte seiner Nebelkammer eine Bleiplatte ein, die sich den Elektronen in den Weg stellen sollte, um sie auf ihrem Weg abzubremsen. Nachdem die Elektronen die Bleiplatte durchquerten, mussten sie auf Grund von Wechselwirkungen mit den Hüllenelektronen der Bleiatome Energie verloren haben und sich somit um einiges langsamer bewegen. Dadurch würden sie nach der Bleiplatte im Magnetfeld stärker abgelenkt werden und anhand der Krümmungsradien der Teilchenbahnspur vor und nach der Plätte würde sich ganz klar entscheiden lassen, ob es sich bei den sonderbaren Teilchen um abwärtsbewegende Protonen oder um aufwärtsbewegende Elektronen handelte.

 

Wieder enttäuschten die Ergebnisse des Experiments die Erwartungen der beiden amerikanischen Wissenschafter. Anderson konnte ganz klar zeigen, dass es sich bei den eigenartigen Teilchenbahnen weder um die Spuren von Protonen noch von Elektronen handeln konnte.

 

Er erhielt ein sehr schönes Bild von einer Teilchenbahn, die auf ein Teilchen schließen ließ, das in etwa die Masse des Elektrons aufwies, aber eine positive elektrische Ladung. Damit war Anderson der erste Mensch, dem es gelang, das positive Antielektron, das Positron, nachzuweisen, das bereits einige Jahre zuvor vom theoretischen Physiker Paul Dirac vorhergesagt worden war.

 

Für diese Leistung wurde Carl David Anderson im Jahre 1936 im Alter von 31 Jahren, gemeinsam mit Viktor Franz Hess, mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet.

 

Eine Frage, die noch unbeantwortet war, lautete, wo denn dieses Positron so plötzlich herkam. Elektronen und Protonen, die man schon zuvor gefunden hatte, stammten, wie man wusste, aus den Kernen und den Hüllen der Atome unserer Umwelt, der Atmosphäre usw.

 

Bei den Positronen handelte es sich aber um Antimaterie, die in dieser Form nicht in unserer Umwelt vorkommt. Die Frage nach dem Woher der Positronen war also äußerst schwierig zu beantworten. Anderson und Millikan fanden bald eine Antwort auf diese Frage, die sich aber wiederum als falsch herausstellen sollte. Ihre Erklärung war, dass die Positronen exotische Partikel waren, die mit der Kosmischen Strahlung aus den Tiefen des Kosmos kamen.

 

Patrick Blackett und Giuseppe Ochialini, die am Cavendish Labor in Cambridge arbeiteten, gaben sich hingegen mit der Erklärung der Amerikaner nicht zufrieden. Ihnen war es gelungen, die Wilson’sche Nebelkammer entscheidend zu verbessern. Ihre Idee war brillant weil einfach.

 

Sie montierten oberhalb und unterhalb der Nebelkammer je ein Geiger-Müller Zählrohr und machten genau dann Bilder von den Teilchenspuren in ihrer Nebelkammer, wenn beide Zählrohre gleichzeitig ein Ereignis meldeten. Dann war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein Teilchen der Kosmischen Strahlung auf ihrem Weg durch beide Zählrohre auch die Nebelkammer durchquert und dort interessante Ereignisse ausgelöst hatte. Was sie fanden, waren sogenannte Schauer von Elementarteilchen, die entstanden, wenn die Kosmische Strahlung in Materie Wechselwirkungen durchmachte.

 

Dabei entstanden große Mengen von Elektronen und Positronen. Damit gelang es Blacket und Ochialini nachzuweisen, dass die Positronen keineswegs Beispiele für exotische Materie waren, die als Gäste aus entfernten Antimateriegalaxien kamen, sondern dass diese Antimaterie bei uns auf der Erde in hochenergetischen Kernkollisionen erzeugt wurden.

 

Zwar stammte die Idee, eine Nebelkammer mit einem Elektromagneten zu kombinieren von Dmitry Skobeltzyn, zwar stammte die Idee, diese Technologie wieder aufzugreifen von Robert Andrews Millikan, zwar stammten die Erklärungen der eigentümlichen und neuen Phänomene rund um das Positron von Patrick Blackett und Giuseppe Ochialini, aber der erste Mensch, der Positronenspuren photographierte war eben Carl David Anderson, weshalb auch er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.