1. Kapitel: Ermittlungsmethoden — Art und Umfang des Anteils 1911: Die Juden und das Wirtschaftsleben von Werner Sombart: Erster Abschnitt Der Anteil der Juden am Aufbau der modernen Volkswirtschaft.

Erstes Kapitel: Ermittlungsmethoden — Art und Umfang des Anteils

Um den Anteil festzustellen, den eine Bevölkerungsgruppe, an einer bestimmten wirtschaftlichen Tatsächlichkeit hat, stehen, uns zwei Methoden zur Verfügung: die statistische und die genetische, wie man sie nennen könnte.

Mittels der statistischen Methode, wie es der Name ausdrückt, würde man versuchen, die Anzahl der Wirtschaftssubjekte zu ermitteln, die überhaupt an einer wirtschaftlichen Aktion beteiligt sind, also beispielsweise den Handel mit einem bestimmten Lande, die Industrie einer bestimmten Gattung in gegebenen Zeitepochen ins Leben rufen, und dann die Prozentzahl, herauszurechnen, die von diesen die Angehörigen der untersuchten Bevölkerungsgruppe ausmachen. Zweifellos hat diese Methode ihre großen Vorzüge. Es gibt gewiß eine deutliche Vorstellung von der Bedeutung sage der Ausländer oder der Juden für die Entwicklung eines Handelszweiges, wenn ich ziffermäßig feststellen kann, daß 50 oder 75 % der beteiligten Personen einer bestimmten Art sind. Zumal wenn die Statistik, sich noch auf andere ökonomisch bedeutsame Tatbestände außer der Person des Wirtschaftssubjektes bezieht: die Größe des werbend angelegten Kapitals, die Menge der erzeugten Güter, die Höhe des Warenumsatzes u. dgl. Man wird daher sich der statistischen Methode bei den Untersuchungen wie den hier angestellten gern und mit Vorteil bedienen, Wird aber auch sehr bald einsehen, daß mit ihr allein die Aufgabe nicht gelöst werden kann, Zum ersten deshalb nicht, weil auch die beste Statistik, noch nicht alles, oft sogar nicht einmal das Wichtigste von dem aussagt, was in unserem Falle gefragt wird. Sie bleibt stumm, gegenüber dem Problem der dynamischen Wirkung, die im Wirtschaftsleben (wie überall, wo Menschenwerk vollbracht wird) einzelne kraftige Individualitäten auszuüben vermögen, deren Einfluß weit über den Bereich ihres unmittelbaren Tätigkeitskreises hinausragt, deren Anteil an dem Gange einer bestimmten, Entwicklung deshalb aber natürlich auch unverhältnismäßig viel größer ist, als ihr ziffermäßiger Anteil an der Berufsgruppe und ihren Lebensäußerungen zum Ausdruck bringt. Wenn das Geschäftsgebaren eines Bankhauses für zehn andere bestimmend wird und das allgemeine Geschäftsgebaren einer Zeit und eines Landes dadurch sein Gepräge erhält, so ist diese Wirkung und somit der Anteil dieses einen, Richtung gebenden Bankhauses an der Entwicklung des Bankwesens offensichtlich durch keine noch so genaue Biffermäßige Feststellung wiederzugeben. Die statistische Methode würde also auf alle Fälle durch andere Untersuchungsmethoden ergänzt werden müssen.

Nun macht aber ein anderer Mangel der statistischen Methode sich vielleicht noch empfindlicher fühlbar als der eben besprochene: daß sie nämlich in den allermeisten Fällen wegen des ungenügenden Zahlenmaterials überhaupt nicht anwendbar ist. Es sind ganz besonders glückliche Umstande, die uns für die Vergangenheit genaue Zifferangaben über die Zahl der an einer Industrie, an einem Handelszweige beteiligten Personen, über die Größe des Umsatzes usw. mit dem genauen Prozentverhältnis der verschiedenen Bevölkerungsgruppen — in unserem Falle also mit dem ziffermäßigen Anteil der Juden — hinterlassen haben. Für die Gegenwart und die Zukunft wäre es vielleicht — unter besonders günstigen Verhältnissen — möglich, in größerem Umfange statistische Feststellungen der gedachten Art zu machen. Von einigen wird im Verlaufe dieser Arbeit selbst die Rede sein. Nur sollte man sich der ungeheuern Schwierigkeiten bewußt bleiben, denen die Ausführung solcher Untersuchungen begegnet. Die allgemeinen Berufs- und Gewerbezahlungen lassen uns vollständig im Stich dabei. Im günstigsten, Fall läßt sich aus ihnen der Anteil der Konfessionen an den verschiedenen Zweigen wirtschaftlicher Tätigkeit entnehmen, Damit ist uns aber nur wenig gedient: erstens bedeuten, wie schon hervorgehoben wurde die bloßen Personenziffern ohne Angaben über die Größe des Kapitals oder der Produktions- oder Absatzkapazität, die sie vertreten, nicht genug; zweitens entziehen sich dabei alle Personen der Ermittlung, die einen Konfessionswechsel vorgenommen haben, aber doch noch der untersuchten Bevölkerungsgruppe zugeordnet werden sollten. Will man zu einigermaßen zuverlässigen Ergebnissen gelangen, (80) werden derartige Affermäßige Feststellungen unter vergleichender Benutzung verschiedener Quellen (wie namentlich der kommerziellen und industriellen Handbucher, der Handels- und Industrieadreßbücher, der Steuerrollen der jüdischen Gemeinden usw.) monographisch von Personen gemacht werden müssen, die über eine genaue Branchenkenntnis und namentlich über eine genaue Personenkenntnis verfügen. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß mein Buch die Anregung bieten wird, derartige Untersuchungen (die zu allem anderen noch beträchtlicher Geldmittel benötigen) in größerem Stile zu unternehmen. Im Augenblick aber besitzen wir — außer der von Herrn Sigmund, Mayr in Wien geplanten Enquete — keine brauchbare Arbeit der gedachten Art. Und ein Buch wie dieses müßte ungeschrieben bleiben, gabe es nur die statistische Methode, um den Anteil der Juden an unserem Wirtschaftsleben kestzustellen. Wie ich aber eingangs schon erwähnt habe, besitzen wir noch eine andere Methode, die ich die genetische nannte, die sogar nicht nur als Lückenbußerin erscheint, sondern die selbst große Vorzüge vor der statistischen Methode aufweist, so daß sie als gleichwertig neben diese gestellt werden kann.

Diese genetische Methode läßt sich etwa wie folgt kennzeichnen: ermitteln wollen wir vor allem, inwieweit eine Bevölkerungsgruppe (Juden) bestimmend wird (oder geworden ist), für Gang und Richtung, Wesen und Art des modernen Wirtschaftslebens, gleichsam also ihre Jualitative, oder wie ich es oben nannte, ihre dynamische Bedeutung. Das aber können wir am ehesten, wenn wir untersuchen; ob bestimmte, unser Wirtschaftsleben besonders auszeichnende Züge ihre erste entscheidende Prägung etwa von den Juden erfahren haben: sei es, daß gewisse äußere Gestaltungen standortlicher oder organisatorischer Natur auf ihre Wirksamkeit sich zurückführen lassen; sei es, daß Geschaftsgrundsätze, die sich zu allgemeinen, unser Wirtschaftsleben tragenden Wirtschaftsmaximen ausgewachsen, haben, aus spezifisch jüdischem Geiste geboren sind. Die Anwendung dieser Methode erheischt, wie ersichtlich, die Zurückliegende Verfolgung wirtschaftlicher Entwicklungsreihen tunlichst bis in ihre ersten Anfange hinauf, zwingt unsere Betrachtung also, sich dem Kindheitsalter des modernen Kapitalismus zuzuwenden oder doch wenigstens jener Zeit, in der er sein heutiges Gepräge zuerst empfing. Sie läßt uns aber keineswegs nur in jener Jugendzeit verweilen, sondern fordert unsere Aufmerksamkeit auch in der Verfolgung des Reifeprozesses kapitalistischen Wesens, weil ja während dieser ganzen Zeit bis in die Gegenwart hinein immer „neu und neuer Stofft sich zudrängt und Wesenseigentümlichkeiten oft genug erst in einem späteren Alter einem Wirtschaftssysteme sich aufrügen: es muß nur immer der Augenblick wahrgenommen werden, wenn das Neue sich zum ersten Male verspüren Ist und untersucht werden: wer in diesem entscheidenden Augenblick die führende Rolle in dem besonderen Zweige des Wirtschaftslebens, der den neuen Trieb ansetzt, gerade gespielt habe.

Wer die entscheidende Rolle gespielt hat, muß festgestellt, werden, Obwohl dabei natürlich oft genug eine genaue und einwandfreie Feststellung sehr schwierig, wenn nicht unmöglich ist: der wissenschaftliche Takt muß hier, wie in den meisten Fällen, das Richtige treffen. Daß übrigens diejenigen Persönlichkeiten, die eine Einrichtung, eine leitende Idee in das Wirtschaftsleben schöpferisch hineintragen, keineswegs immer die „Erfinder“ im engeren Verstande sind, versteht sich von selbst. Man hat oft gesagt, daß die Juden nicht eigentlich erfinderische Köpfe seien, daß nicht nur auf technischem, sondern auch auf wirtschaftlichem Gebiete die neuen „Erfindungen“ von Nichtjuden gemacht wurden und daß die Juden die Ideen der anderen nur geschickt auszunutzen verstünden. Ich halte diese These in ihrer Allgemeinheit nicht für richtig: auch in technischen, sicher aber in Skonomischen Dingen begegnen wir jüdischen „Erfinder“ im engeren und eigentlichen Sinne (wie diese Untersuchungen in verschiedenen Fällen erweisen werden). Aber wenn sie auch in ihrem vollen Umfange richtig wäre, so bewiese sie noch nichts gegen die Annahme, daß etwa die Juden bestimmten Teilen des Wirtschaftslebens ihr eigenartiges Gepräge aufgedrückt haben, da es in der wirtschaftlichen Welt gar nicht so sehr auf die Erfindung als auf die „Ausbeutung“ der Erfindung ankommt; das heißt also auf die Fähigkeit, irgend einer Idee Leben zu verleihen, irgend einen neuen Gedanken im Boden der Wirklichkeit zu verankern: nicht das entscheidet über den Gang und die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung, ob irgend ein ingeniöser Kopf die theoretische Möglichkeit sage des Abzahlungsgeschäftes in seinem lieben Gemüte erwogen hat, sondern dieses: ob solcherart geeignete Menschen da waren, die diese neue Geschäftsform in die Menge hineinzustoßen das Interesse und die Fähigkeit besaßen.

Ehe ich nun den Anteil selbst festzustellen versuche, den die Juden am Aufbau unseres modernen Wirtschaftslebens gehabt haben, möchte ich mit ein paar Worten noch die Frage erörtern: bis zu welchem Grade es der Darstellung gelingen kann, die Größe des wirklichen Anteils zum Ausdruck zu bringen, wenn in möglichst vorteilhafter Weise die beiden der Untersuchung, zur Verfügung stehenden Methoden: die statistische und die genetische, zu gemeinsamer Anwendung gelangen.

Da wird es zundchst nicht zweifelhaft sein, daß die Bedeutung der Juden für die moderne Wirtschaftsentwicklung größer erscheinen mus, als sie in Wirklichkeit ist, weil alle Erscheinungen unter dem einen Gesichtspunkte betrachtet werden: wie waren die Juden an ihrer Lebendigmachung beteiligt: Diese Wirkung, die Wichtigkeit eines Faktors in einem komplexen, Gesamtergebnis zu überschätzen, wird immer erzielt werden müssen (und sollen), wenn man diesen einen Faktor einer isolierenden Analyse unterzieht. Schriebe man die Geschichte, der modernen Technik und ihren Einfluß auf den Gang des Wirtschaftslebens, so würde genau so sehr alles technisch bedingt erscheinen, wie im anderen Falle etwa staatsorganisatorisch bedingt, wenn man einseitig die Bedeutung des modernen Staates, für die Genesis des Kapitalismus zur Darstellung bringen wollte. Das versteht sich von selbst, soll aber doch ausdrücklich betont, werden, damit ich von vornherein dem Vorwurf die Spitze abbreche: ich hätte den Einfluß der Juden auf den Gang unseres Wirtschaftslebens überschätzt. Natürlich haben tausend andere Umstände gleichermaßen dazu beigetragen, daß unsere Volkswirtschaft die Gestalt bekommen hat, die sie heute trägt. Ohne die Entdeckung Amerikas und seiner Silberschätze, ohne die Erfindungen der modernen Technik, ohne die volklichen Eigenarten der europäischen Nationen und ihre historischen Schicksale wäre der moderne Kapitalismus ebenso unmöglich wie ohne das Einwirken der Juden. Der Einfluß der Juden bildet, ein Kapitel in dem großen Geschichtsbuche und wird auch von mir in der neuen genetischen Darstellung des modernen Kapitalismus, die ich in nicht allzu ferner Zeit hoffe geben zu können, in dem großen Zusammenhange an der gebührenden Stelle in seiner teilhaften Bedeutung gewürdigt werden, wo er dann in dem richtigem Maße neben den anderen bestimmenden Faktoren, erscheinen wird. Das ist hier nicht möglich und deshalb kann leicht (beim ungeübten Leser) eine Verschiebung des Wirklichkeitsbildes zugunsten eines Faktors eintreten. Die hier ausgesprochene, Warnung wird aber hoffentlich ihre (subjektive) Wirkung nicht verfehlen und zusammen mit einem anderen (objektiven) Tatbestande eine annähernd richtige Dimensionierung herbeiführen, Dieser zweite Tatbestand, an den ich denke, ist der: daß auf der anderen Seite der Einfluß der Juden auf den Gang unseres Wirtschaftslebens zweifellos weit größer ist als er in der Geschichtsdarstellung erscheint.

Und zwar aus dem sehr einfachen Grunde: weil dieser Einfluß nur zu einem Teile überhaupt festgestellt werden kann, zu einem anderen (vielleicht größeren, jedenfalls beträchtlichen) Teile sich aber überhaupt unserer Kenntnis entzieht. Sei es zunächst wegen ungenügender Wissenschaft von den Sachvorgängen. Wie sehr diese in statistischer Hinsicht zu wünschen übrig läßt, wurde schon hervorgehoben. Aber auch bei rein genetisch-dynamischer Betrachtungsweise: wer weiß heute noch Genaues über die Personen oder Gruppen von Personen, die diese oder jene Industrie begründet, diesen oder jenen Handelszweig entwickelt, diesen oder jenen Geschäftsgrundsatz zuerst vertreten haben: Freilich bin ich der Meinung, daß sehr viel mehr über diese Dinge noch an Kenntnis gewonnen werden kann, als wir heute besitzen, ja ich zweifle nicht, daß wir schon weit mehr Kenntnis heute davon haben, als ich weiß und als infolgedessen auch nur in meiner Darstellung zum Ausdruck kommen kann. Zu der objektiven (in den Verhältnissen gelegenen) Unzulänglichkeit unseres Wissens kommt also in diesem Falle noch eine subjektive (in der Unzulänglichkeit des Berichterstatters begründete) Mangelhaftigkeit der Kenntnis von der Wirklichkeit, die es bewirkt, daß nur ein (vielleicht sehr kleiner) Teil der wissenswerten Tatbestände dem Leser dieses Buches, berichtet wird. Jedenfalls wird er sich jederzeit dessen bewußt, bleiben müssen, daß das, was ich von den Juden und ihrer Anteilnahme an dem Aufbau der modernen Volkswirtschaft zu sagen weiß, immer nur ein Minimum der Wirklichkeit darstellt und des weiteren: daß dieses Minimum aus einem anderen Grunde noch mehr in seinem Verhältnisse zu der Ganzheit des tatsächlichen Verlaufes sich verringert. Deshalb nämlich, weil innerhalb der Kenntnis, von der Entstehung unserer Volkswirtschaft, die, wie wir sahen, äußerst lückenhaft ist, soweit es sich um Personalfeststellungen, handelt, wir noch ganz besonders unzulänglich unterrichtet sind über die Frage, ob denn nun Personen, deren Einfluß wir in einem günstigen Falle nachweisen können, selbst wenn wir imstande sind, sie namhaft zu machen und ihre Personalien genau, festzustellen, Juden gewesen sind oder nicht.

„Juden“ — das heißt also Angehörige des Volkes, das sich zum mosaischen Glauben bekennt. (Ich vermeide bei dieser Begriffsbestimmung absichtlich jede Ausrichtung auf blutsmäßige, Sonderheit, die wir vielmehr — einstweilen — als zweifelhaft oder wesensunwichtig beiseite lassen wollen.) Ich brauche nicht, erst zu sagen, daß bei dieser Art, den Begriff des Juden zu fassen (trotz der Ausscheidung aller rassenhaften Merkmale bei der Begriffsbestimmung), doch auch derjenige Jude bleibt, der aus der jüdischen Religionsgemeinschaft ausscheidet. Und daß seine Nachkommen Juden bleiben, soweit historisches Erinnern reicht. (Über die Berechtigung dieser Auffassung werde ich mich im weiteren Verlaufe dieser Darstellung noch Außern.)

Bei dem Bemühen, den Anteil der Juden am Wirtschaftsleben festzustellen, er weist sich nun unausgesetzt als ein lästiges, Hindernis der Umstand, daß immer wieder als Christen Leute, erscheinen, die Juden sind, nur weil sie oder ihre Vorfahren, einmal getauft wurden. Ich sagte schon, daß sich diese Verschleierung des Tatbestandes besonders fühlbar macht bei Anwendung der statistischen Methode, da ja statistisch immer nur die Konfession erfaßt wird. Aber auch bei der anderen Methode empfinden wir es oft genug als einen Übelstand, daß uns der wirkliche Status einer Person verborgen bleibt, weil der religiöse Mantel gewechselt ist.

Daß aber nicht geringe Mengen von Juden zu allen Zeiten, ihren Glauben verlassen haben, dürfen wir als gewiß annehmen, In früheren Jahrhunderten waren es vornehmlich die Zwangstaufen, die aus dem jüdischen zum christlichen Glauben hinüberführten. Wir erfahren von ihnen seit dem frühesten Mittelalter: in Italien während des 7. und 8. Jahrhunderts, ebenso in Spanien um jene Zeit und im Merovingerreiche; wir begegnen ihnen aber durch alle späteren Jahrhunderte hindurch bei allen christlichen Völkern bis in die neueste Zeit hinein. Fast bis in die Zeit hinein, in der nun der freiwillige Religionswechsel als Massenerscheinung auftritt. Das ist das 19. Jahrhundert vor allem in seinem letzten Drittel. Für die letzten Jahrzehnte besitzen wir auch erst zuverlässige Statistiken, während für die frühere Zeit oft recht unglaubwürdige Mitteilungen überliefert sind. So scheint, es mir beispielsweise nicht sehr wahrscheinlich zu sein, was Jakob Fromer berichtet, daß gegen Ende des 2. Jahrzehntes, des 19. Jahrhunderts ungefähr die Hälfte der Berliner Judenheit zum Christentum übergetreten seil, Ebenso wenig dürfte sich die Behauptung als richtig erweisen lassen, die unlängst in einer Versammlung des „Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ der Referent des Abends, Rabbiner Dr. Werner München (nach Zeitungsberichten) aufstellte: in Berlin seien bisher 120 000 Juden getauft worden. Die Ziffern, die wir aus der Zeit zuverlässiger statistischer Feststellungen besitzen, sprechen dagegen. Nach diesen setzt eine stärkere Austrittsbewegung erst in den 1890 er Jahren ein: doch steigt der Prozentsatz der Ausgetretenen in keinem Jahre über 1,28  ‰ (dieses Maximum wird 1905 erreicht), während der Durchschnitt etwa 1 ‰ (seit 1895) beträgt. Immerhin sind die in Berlin aus der jüdischen Religionsgemeinschaft ausgetretenen Personen eine ansehnliche Schar, die jährlich nach Hunderten zahlt und seit 1873 (bis 1906) sich genau auf 1869 beläuft. (2)

Stärker ist die Austrittsbewegung unter den Juden Österreichs, namentlich Wiens. Jetzt treten in Wien jedes Jahr, 5—600 Personen aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus und in den 36 Jahren von 1868—1903 sind es ihrer 9085. Die Zahl der Austritte wächst rasch an. Im Durchschnitt der Jahre, 1868,79 kam ein Tauffall auf 1200 Juden im Jahre, 1880/89 auf 420—430, 1890/1903 dagegen schon auf 260—2702. (3)

Aber wenn nur die getauften Juden die einzigen Juden wären, die einem entgehen, wenn man den Anteil dieses Volkes, am Wirtschaftsleben ermitteln will! Es gibt noch verschiedene andere Gruppen von Juden, deren Wirksamkeit sich schwer oder gar nicht nachweisen läßt.

Ich denke gar nicht einmal an die ganze weibliche Judenschaft, die in christliche Familien hineinheiratet und hier natürlich ein für allemal dem Namen nach als Jüdinnen, verschwindet, ohne doch aller Wahrscheinlichkeit nach (worüber wir uns erst später unterhalten können) ihre Wesenheit aufzugeben (und damit natürlich jüdische Eigenart weiter zu verbreiten) ich denke vielmehr zundchst an die geschichtlich so außerordentlich bedeutsame Gruppe der Scheinjuden, denen wir (wieauch noch genauer zu berichten sein wird) in allen Jahrhunderten, begegnen, und die in manchen Zeiten recht beträchtliche Teile der Judenheit ausmachten, Diese Krypto-Juden wußten sich nun aber so vortrefflich als Nicht-Juden aufzuführen, daß sie in der Meinung der Leute tatsächlich als Christen (oder Muhamedaner) galten. Von den Juden portugiesisch-spanischer Herkunft in Südfrankreich während des 15. und 16. Jahrhunderts (und später), erfahren wir beispielsweise — ähnlich aber lebten alle Marranos auf der Pyrendenhalbinsel und außerhalb— „IIs obéissaient à toutes les pratiques extérieures de la réligion catholique; leurs naissances, leurs marriages, leurs décés taient inserits sur les registres de l’Eglise, qui leur octroyait les sacréments chrétiens, du bapteme, du marriage et de l’extreme onction, Plusieurs méme entrerent dans les ordres et devinrent prétres“ Kein Wunder, also, daß sie in allen Berichten über Handelsunternehmungen, Industriegründungen usw. nicht als Juden erscheinen und daß einige Historiker noch heute von dem günstigen Einfluß spanischer oder „portugiesischer“ Einwanderer zu singen wissen. Die Schein-Christen wußten manchmal so gut ihr wirkliches Volkstum zu verbergen, daß sich heute Spezialisten auf dem Gebiete judaistischer Forschung darüber streiten, ob eine bestimmte Familie jüdischen Ursprungs gewesen sei oder nichts. Die Ungewißheit ist natürlich besonders groß, wenn die Krypto-Juden christliche Namen angenommen haben. Besonders zahlreich müssen die Juden unter den protestantischen Refugiés im 17. Jahrundert, gewesen sein, wie wir aus allgemeinen Gründen, aber auch aus den vielen jüdischen Namen schließen können, die uns unter den Huguenots begegnen. (6)

Endlich entziehen sich der Feststellung alle diejenigen Juden, die tatsächlich in vormärzlicher Zeit sich im Wirtschaftsleben betätigten, von der Behörde jedoch nicht gekannt waren, weil das Gesetz die Ausübung ihrer Berufe verbot. Sie mußten sich entweder eines christlichen Strohmannes bedienen oder der Schutz der privilegierten Juden suchen oder irgend einen anderen, Trick anwenden, um zwischen den Gesetzen ihre Tätigkeit entfalten zu können. Nach sehr guten Kennern muß dieser im Verborgenen blühende Teil der Judenheit manchen Orts sehr, beträchtlich gewesen sein. So soll beispielsweise in Wien in den 1840er Jahren die Zahl der Juden „nach mäßiger Schätzung schon 12 000 betragen haben: in ihren Händen lag schon damals, der gesamte Textil-Engroshandel; ganze Teile der inneren Stadt, waren nur von jüdischen Geschäften erfüllt. Und dabei zählt das amtliche Handelsschema von 1845 nur 63 Juden auf, die als „tolerierte jüdische Handelsleute“ mit der Beschränkung auf bestimmte Artikel im Anhange angeführt sind. (7)

Genug — Worauf es mir hier ankam, war: zu zeigen — daß aus sehr verschiedenen Gründen die Zahl der Juden, von der wir erfahren, geringer ist als die, die wirklich da waren oder da sind. Sodaß — das sollte dem Leser zum Bewußtsein, gebracht werden — auch dieserhalb der Anteil der Juden am Aufbau unserer Volkswirtschaft kleiner erscheinen muß, als er in Wirklichkeit ist. Und nun endlich wollen wir versuchen, diese Anteilnahme selber zu schildern.