Beide Seiten der Front: 3. Ostwärts: Nach dem Angriff - 3.1 Patrick Baab's Reise in die Ukraine: "Auf beiden Seiten der Front". 3.1. Moskau: Auf eigene Faust.
3.1. Moskau: Auf eigene Faust
Wir erreichen die Grenze nach Einbruch der Nacht. Vor dem Krieg gab es hier kilometerlange Staus; jetzt kaum ein Auto. Fast leere Alleen, von doppelten Baumreihen
gesäumt, führen durch die endlosen Wälder Masurens, in denen der Herbst die Blätter von hellgrün zu gelb verfärbt.
An der Grenze zwischen Polen und dem Oblast Kaliningrad warten 20 Fahrzeuge. Eine Füchsin klappert die Autos ab, in der Hoffnung, von den Wurstbroten der Reisenden zu pro tieren. Es ist der 17. September 2022, Tag elf der ukrainischen Gegenoffensive. Für die Russen läuft es nicht gut. Sieben Monate nach ihrem Überfall auf das Nachbarland werden ihre Truppen in weiten Teilen der Front zum Rückzug gezwungen; nur so entgehen sie der Einkesselung. Im Soundsystem singt Sergei Schnurow: »Ich habe meiner Frau ein blaues Auge geschlagen, und wenn sie sich bei der Polizei beschwert, dann werde ich denen sagen: Moment mal, sie wollte in die NATO! Das war keine Dresche, das war eine Spezialoperation!«(51) Der Sänger aus Sankt Petersburg ist nicht bekannt für zarte Töne; doch in Russland lässt man ihn singen.
Nach fast drei Stunden sind wir an der Reihe. Pässe her, alle raus, alle Türen auf! Misstrauisch betrachten die russischen Zöllner unsere deutschen Pässe. Ein Grenzer schnauzt uns an: »Was hängt da rum? Auseinanderstehen, Gesicht zu mir!« Es dauert, der Pass wird eingelesen, ebenso das Touristenvisum. Wir reisen auf eigene Faust, niemand hat uns geschickt, niemand hat uns gebeten. »Warum doppelte Einreise nach Russland?« »Wir wollen von Rostow weiter nach Donezk!« »Aha, die Herren sind vergnügungssüchtig!«
Das zweifelhafte Vergnügen war lange geplant. Im September 2021 besuchte ich den Westen der Ukraine, Lemberg, Chust, am Rande der Karpaten. Auf langen Wanderungen, beim Durchwaten reißender Flüsse, beim Blick auf holprige Schlaglochpisten kam mir die Idee, das zu tun, was ich am besten kann: darüber schreiben. Weitere Reisen im Jahr darauf sollten dem Buch Form und Richtung geben. Doch dann kam der russische Einmarsch. Von Westen her war kein Durchkommen mehr in den Donbass, dazwischen lag die Front. Zunächst wollte ich abkürzen – über Kiew nach Dnipro und dann nach Odessa. Doch meine Freunde hatten keine Zeit, da war ein Haus zu bauen, das vor dem Winter fertig werden musste. Wer, wenn nicht sie, könnte mich begleiten? Es gibt Reisen, die sollte man besser nicht allein antreten.
Wer solche Touren macht, braucht nicht nur starke Nerven. Im Vorteil ist, wer Russland schon ein wenig kennt, die Sprache spricht, nicht gleich als Ausländer auffällt, ein paar Kontakte und über Freunde und Verwandte Zugang zu russischen Konten hat. Denn die westlichen Sanktionen sorgen dafür, dass Geldautomaten bei deutschen Kreditkarten korrekt melden: »Ihre Bank antwortet nicht!« 5000 Dollar im Bauchgurt – das Geld reichte vielleicht nur bis zum Checkpoint irgendeiner Miliz im Donbass, wo sich die Summe in Lösegeld verwandeln könnte.
Bei Freunden in Frankfurt lernte ich Sergey kennen. Er zeigte die gelassene Entschlossenheit, die gebraucht wird auf einer solchen Reise. Sergey ist ein Experte für Kaffeemaschinen und kann genau erklären, wie heiß die Brühe sein muss und wie der Schaum auf einem guten Kaffee aussehen sollte. Bekannten in Kaliningrad hat er gebrauchte Kaffeemaschinen verkauft. Handeln kann man mit allem, und das Durchwursteln wird auch zum Prinzip unserer Reise: Alle Direktflüge nach Russland sind gestrichen; wir müssen die Sanktionen umgehen. Deshalb fahren wir mit dem Wagen nach Kaliningrad, lassen das Auto bei Freunden, nehmen die Aeroflot-Maschine nach Moskau und buchen dort ein Zweier-Coupé für die 25-stündige Zugfahrt nach Rostow am Don. Wie es dann weitergeht – keine Ahnung. Eines wissen wir aber: In einem Krieg mit Tausenden von Toten kommt es auf zwei Leichen mehr oder weniger auch nicht an. Sollte uns etwas zustoßen, wird kein Hahn danach krähen. Deshalb beschließen wir, eine Art Video-Tagebuch zu machen. So wissen wenigstens Freunde und Bekannte, dass wir noch am Leben sind.
Zum damaligen Zeitpunkt zählte das UNHCR mehr als 7,5 Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in ganz Europa, davon fast 2,9 Millionen in Russland. (52) Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen nicht ausreisen, sie müssen kämpfen. Asyl für ukrainische Kriegsdienstverweigerer gibt es nur in Russland. Überall Familien, die durch den Krieg zerbrechen. Wir lassen die Grenze hinter uns und fahren Richtung Kaliningrad. Sergei Schnurow singt: »Wie gut haben wir gelebt, ach wie gut haben wir gelebt, wie gut haben wir damals schlecht gelebt« – vor dem Krieg.(53) Das Hotel Baltika ist ein alter, aber sauberer sowjetischer Schuppen direkt am Tschistyi Prud, dem früheren Lauther Mühlenteich. Die Türen sind neoklassisch aus Holz, das Bad hat Röhren statt Heizkörper. Beim Frühstück überfällt uns im Speisesaal eine Schülergruppe auf Klassenfahrt. Sie kommen aus Gwardeisk – »Gardestadt« – an der Pregel, etwa 35 Kilometer weiter östlich. Hier in Kaliningrad sollen sie Kulturgeschichte kennenlernen, besuchen den Dom, das Kant-Museum und sammeln Bernstein. Sie tragen das gelbe Halstuch ihrer Schule und frühstücken in zwei Schichten unter alten Wandteppichen mit deutschen Bauernmotiven: Fässer, Pferde, Kutscher. An den runden Tischen geht es bei Eiern, Krautsalat, Karto eln und Tee ruhig und diszipliniert zu. Die Busreise, hören wir, wird vom Staat bezahlt. Einen Eigenbeitrag gibt es nicht. Im Fahrstuhl freut sich die Putzfrau, dass ich Deutscher bin; Deutsch, das hat sie mal in der Schule gelernt. Der Krieg findet hier
nur in den Fernsehnachrichten statt.
Wir wollen russische SIM-Karten kaufen. Deshalb fahren wir in die City von Kaliningrad – und finden uns in Königsberg wieder. Hinter sowjetischen Plattenbauten in schlechtem Zustand präsentiert sich die Metropole der russischen Exklave als moderne Großstadt. Die Bauruine des »Hauses der Sowjets« gilt heute als Symbol für das Scheitern der Sowjetunion, ein Teil der Kaliningrader Schizophrenie. Im Einkaufszentrum Plaza sind die Läden voll und gut besucht. Was im Stadtkern ein halbes Jahr totalen Krieges völlig zerstört hat, ist nun wieder aufgebaut und orientiert sich an den alten hanseatischen Gebäuden. Man versucht, das feine Gewebe der Bürgerhäuser, Kontore, Cafés und Buchhandlungen nachzuahmen, das durch die Luftangriffe im August 1944 und sowjetische Planungswut plattgemacht wurde.(54) Eine Stadt an einer historischen Bruchstelle, die wieder nach Westen geblickt hat, wird nun durch die Sanktionen gegen Russland wieder vom Westen abgeschnitten und zur Frontstadt an der NATO-Außengrenze. In Kaliningrad hat man darauf gewartet, nach dem Ende des ersten Kalten Krieges wieder zur Brücke zwischen den Völkern zu werden; man hat vergeblich gewartet.
Für die berühmteste Tochter der Stadt, Hannah Arendt, gibt es hier kein Denkmal. Als Enkelin aus dem Russischen Reich nach Preußen eingewanderter Juden wurde sie 1906 geboren. Vielleicht muss man vom östlichen Rande des Deutschen Reiches und aus einer wohlhabenden Stadt der Kaufleute auf die Krise der bürgerlichen Welt blicken, um die Vernichtungsenergie übersehen zu können, die der Zerfall bürgerlicher Klassenstrukturen und der europäischen Staatenwelt freisetzen konnte: »Die erste Explosion war wie der Starter einer Kettenreaktion, die bis heute nicht zum Halten gebracht werden konnte … Nichts, was seit dem Ersten Weltkrieg sich wirklich ereignete, konnte wieder repariert werden, und kein Unheil, nicht einmal der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, konnte verhindert werden. Jedes Ereignis hatte die Qualität einer Katastrophe, und jede Katastrophe war endgültig.«(55) Heute, am Rande einer neuen Katastrophe, erscheinen mir diese Sätze ganz aktuell: Die Epoche der Weltenbrände ist längst nicht vorbei.
In Kaliningrad führt nun ein trotziger Behauptungswille Regie: Wir haben schon einmal einen totalen Krieg überstanden, das hier werden wir auch überstehen. Den berühmtesten Sohn der Stadt, Immanuel Kant, zeigt man stolz chinesischen Touristengruppen. Fast alle, die heute nach der Zeit der Vertreibungen und Umsiedlungen hier leben, haben ihre familiären Wurzeln anderswo. Irgendwie scheint der Philosoph zu einer Art verbindendem Element, zum Fluchtpunkt regionaler Identität zu werden. Sein Denkmal steht in einem Park vor der Universität, die seit 2005 seinen Namen trägt, umbenannt zum 750. Jahrestag der Stadtgründung in Anwesenheit von Präsident Wladimir Putin und dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Vor dem Denkmal stehend denke ich an Kants Galgenhumor, mit dem er seine Schrift »Zum ewigen Frieden« einleitet. Er verweist auf ein holländisches Gasthaus, das diesen Namen führt und dessen Schild einen Friedhof zeigt.(56) Dahin haben wir es wieder gebracht: Ein weiteres Mal müssen wir uns entscheiden, ob wir Frieden halten oder auf dem Friedhof enden wollen. Im Geist höre ich den Alten von Ferne lachen. Seine sechs Präliminarartikel sind bis heute ein schöner Traum: »Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden.«(57) Im ersten der sechs Artikel geht es Kant um den Unterschied zwischen echtem und unechtem Frieden. Ein Friedensschluss, der die Kriegsgründe nicht beseitigt, kann nicht halten. Ich denke an die Minsker Verhandlungen um einen Frieden im Donbass, während US-Amerikaner und Briten die Ukraine hochgerüstet und schrittweise an NATO-Standards herangeführt haben. »Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen.« Der fünfte Artikel formuliert das Prinzip der Nichteinmischung. Für eine Intervention kann es, so Kant, keine Rechtsgrundlage geben, solange der betroffene Staat nicht die Rechte eines anderen verletzt. Innere Unruhen wie der Bürgerkrieg im Donbass seit 2014 oder unrechtmäßige Zustände stellen keinen Grund für ein militärisches Eingreifen dar. Putins Angriffskrieg steht mir vor Augen. Immanuel Kant gehörte einst der Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg an. Das Zeitalter der Aufklärung endete in Kriegen. Heute hält Königsberg Ost und West wieder den Spiegel der Aufklärung vor die Nase, doch keiner will hinsehen.
Danach im Restaurant »ХМЕЛЬ« (Hopfen) in der Innenstadt von Kaliningrad Borschtsch mit Speck und Roggenbrot, dazu zwei Gläser kalter Meerrettich-Schnaps. Vielleicht war das der Anfang vom Ende. Lautes Trommeln an der Tür reißt mich am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Völlig derangiert raffe ich mich auf. Sergey steht in der Tür: »Sieh zu, dass du in die Gänge kommst, die Maschine nach Moskau wartet nicht!« Am Vorabend hatten wir den Wagen bei Freunden abgestellt. Die Frau von Maxim ließ es sich nicht nehmen, uns gleich noch zu bekochen. Gäste aus Deutschland sind selten geworden, es gibt viel zu erzählen von diesseits und jenseits der Grenze. Ich bastele mit den Kindern Papierflieger zwischen den Wodkarunden. Bei der dritten Flasche – Filmriss vor der Garderobe. Am nächsten Morgen tickert Maxim: »Hitler kaputt!«
Der Fahrer des Taxis legt vom Flughafen Scheremetjewo Richtung Innenstadt im Moskauer Stoßverkehr bei strömendem Regen ein solches Rennen hin, dass ich nicht weiß, ob meine Schweißausbrüche vom Restalkohol oder von der Todesangst kommen. Im Hotel in der Kadaschewskaja lege ich mich erst mal aufs Bett und atme tief durch. Am Abend treffen wir unseren Freund Andrej, schießen schnell ein Erinnerungsfoto auf der Rolltreppe der U-Bahn und fahren zu einem kasachischen Restaurant, Tschaichania Nr. 1, am Puschkinskaja-Platz. Wir bestellen Lammsuppe und anschließend einen Spieß. An diesem Abend gibt es keinen Schnaps, sondern zwei Karaffen Mors, ein Fruchtsaft, der aus Waldbeeren gewonnen wird. Andrej ist Mitte 30 und hat sich nun »endlich«, wie er sagt, verlobt. Er hat gerade eine neue, größere Wohnung etwas außerhalb des Rings bezogen. Er arbeitet als IT-Spezialist und für einen Onlineshop. »Hier schütteln wir über die Deutschen den Kopf. Ihr habt euch selbst den Gashahn abgedreht und gebt Putin die Schuld. Geht’s noch?« Von den Sanktionen hält er wenig: »Das kommt hier nicht an. Auch im IT-Bereich gibt es alles zu kaufen. Wir erhalten die Sachen aus China, die Europäer sind aus dem Markt, das ist alles.« Das deckt sich nicht nur mit unseren Beobachtungen; auch US-Studien sehen das so.(58) Im zentralen Kaufhaus GUM, in das wir uns am Nachmittag vor Regenschauern und eiskaltem Wind auf dem Roten Platz gerettet haben, sind nach wie vor Schweizer Uhren, Porzellan aus dem saarländischen Merzig, Luxusklamotten aus Italien, Waschmaschinen, die in Polen gefertigt werden, oder koreanische Flachbildschirme und chinesische Computer erhältlich. Mangel herrscht nicht. Im Pkw-Bereich steigern infolge der Sanktionen chinesische Fabrikate ihre Marktanteile. Westliche Luxuskarossen gelangen über Kasachstan oder China nach wie vor nach Russland. Die Lieferanten schlagen die Kosten der längeren Transportwege einfach auf den Preis.(59) Die meisten Länder des globalen Südens – China, Indonesien, Brasilien, Indien, Südafrika – schlossen sich den Sanktionen der NATO-Länder nicht an. Die Türkei verdoppelte ihre Ölimporte gegenüber 2021. Der russische Anteil an Indiens Ölimporten stieg im gleichen Zeitraum von 1 Prozent auf 21 Prozent. Das Monatsvolumen von Chinas Russlandhandel erhöhte sich um zwei Drittel, jenes der Türkei verdoppelte sich, Indien verdreifachte seinen Handel mit Russland und die russischen Exporte nach Brasilien verdoppelten sich.(60) Der russische Außenhandel wuchs um 8,1 Prozent. (61) Aber die russische Energiewirtschaft ist abhängig von westlichem Anlagenbau. Präsident Putin kündigte deshalb an, dass bis zum Jahr 2025 80 Prozent der Ausrüstungen im Öl- und Gasbereich in Russland hergestellt werden sollen. (62)
Russland ist es auch bisher nicht gelungen, eine eigene Digitalindustrie aufzubauen. Das Land ist von westlichen Technologien abhängig und hat keine eigene Halbleiter-Industrie. Anders als Andrej haben mehrere Tausend IT-Spezialisten Russland verlassen. Berichte, dass die russische IT-Branche in Schwierigkeiten kommt, weil die Zulieferung westlicher Halbleiter-Chips ausfällt, kann Andrej aber derzeit nicht bestätigen. Nur die Preise seien
leicht gestiegen. Stattdessen weist er daraufhin, dass in der globalisierten Welt Abhängigkeiten in beide Richtungen wirken. Die Halbleiter-Branche im Westen ist abhängig von Neon-Gas aus Russland. Denn Chip-Laser brauchen diese Materialien etwa bei der Belichtung der Halbleiter, und hier drohen eben Lieferengpässe.(63) Wir stimmen mit Andrej überein, dass sich der Wirtschaftskrieg im Westen stärker auswirkt als in Russland, einem energieautarken Land, das nun an den gestiegenen Öl- und Gaspreisen auf dem Weltmarkt sogar noch kräftig verdient, während Wirtschaftsvertreter in Deutschland vor einer Deindustrialisierung warnen, weil das deutsche Geschäftsmodell eben zum Teil auf billiger Energie aus Russland beruht. Der Präsident des Deutschen Industrie-und Handelskammertages, Peter Adrian, wird wenig später sagen: »Wenn die Energiepreise nicht deutlich sinken, gehen spätestens in sechs Monaten bei Zehntausenden Betrieben hierzulande die Lichter aus.« Damit drohe ein Wohlstandsverlust unbegreiflichen Ausmaßes. (64) Der geopolitische Experte Jacques Baud geht davon aus, dass sich der Westen verschätzt habe und eine schwere
Rezession drohe, deren Ursachen zwar vor dem Krieg liegen, die aber durch die Sanktionen verschärft werde.(65) Der Bundesregierung lagen im November 2022 keine Erkenntnisse zur Wirkung ihrer Russland-Sanktionen vor.(66) Das deckt sich auch mit den Ergebnissen der Ökonomen: Die russische Wirtschaft bricht kaum ein, die Ukraine verarmt rapide und der Westen droht den Wirtschaftskrieg zu verlieren.(67) Auf dem Nachhauseweg blödeln wir herum, Andrej lacht: »Hier in Putins Totalitarismus können wir an der Bushaltestelle das Handy aufladen und haben sogar WLAN!« Ja, in Moskau geht das, denke ich. Aber im sibirischen Krasnojarsk, wo Sergey herkommt? Zum Abschied umarmen wir uns: auf Wiedersehen in Moskau – wenn wir im nächsten Jahr noch leben.
Vor meinen Füßen steht ein Bild von Darja Dugina. Es zeigt eine junge Frau von 29 Jahren mit dunklen Haaren und Seitenscheitel, über deren linkem Auge ein dunkler Schatten liegt. Die Journalistin starb am 20. August 2022 bei einem Autobombenanschlag. Der Anschlag galt offenbar ihrem Vater, dem rechtsnationalistischen Philosophen Alexander Dugin, in dessen Wagen sie nach Hause fahren wollte. Beide hatten ein patriotisches Festival besucht. Darja Dugina rechtfertigte immer wieder öffentlich den Militäreinsatz in der Ukraine: »Was jetzt dort passiert, ist ein Versuch der Russen, die Zivilisten vor dem Tod zu schützen.«(68) US-Geheimdienste vermuten die Ukraine hinter dem Mord. Welche Rolle spielten sie?
Vor dem schwarzgerahmten Foto von Darja Dugina liegen Blumen, daneben eine niedergebrannte Kerze. Das Foto ist an den Sockel einer drei Meter hohen Bronzeplastik gelehnt, die sich im kleinen baumbestandenen Skwer Mstislaw Rostropowitsch zwischen Bolschaja Nikitskaja und Twerskaja vor dem Trubel der schlaflosen Metropole versteckt. Der Bildhauer Alexander Liugin zeigt einen wilden Löwen mit mächtiger Mähne, die Augen aufgerissen wie erstarrt, gebändigt von einem Engel, der rittlings auf ihm sitzt. Die Flügel weit ausgebreitet, blickt dieser Engel seitwärts dem Besucher entgegen, schützend beide Hände erhoben: Weltliche und geistliche Macht begegnen sich. Ich sehe in dieser Plastik den Engel, der den Propheten Daniel in der Löwengrube rettet, in die ihn Babylons König Darius hat werfen lassen. Daniel war wegen seines Glaubens von Neidern denunziert worden, weil er in der Gunst des Königs stand.(69)
Das Buch Daniel erzählt von Macht und Größenwahn, Intrigen und Treue, Aufstieg und Untergang von Weltreichen. Es ist ein spannendes, politisches Buch der Bibel. Es führt in die Vorstellungswelt jener Leute, die wir gleich in der Nähe des Parks treffen werden. Dass hier, in diesem Park, vor dieser Bronze, das Bild von Darja Dugina steht, ist kein Zufall. Russland, eingekreist von den wilden Löwen des Westens und der NATO, das im Vertrauen auf Gott und seine eigene Kraft den Rachen der Bestien zudrücken kann, müsse seinen militärisch-industriellen Komplex ausbauen, müsse im Kampf gegen die Gier geopolitischer Feinde nach Rohstoffen und gegen westliche Dekadenz seine Wirtschaft und seine Elite neu ausrichten, müsse sich auf neue Kriege vorbereiten. Wir werden in ein Verwaltungsgebäude geführt, besteigen den Fahrstuhl und erreichen in der achten Etage einen Besprechungsraum.
Unter der Fahne der Separatistenrepublik Donezk treffen wir Mitglieder des Isborsk-Klubs. In der russischen Presse wird er als Kreml-naher Thinktank beschrieben, der Zar Peter den Großen und Josef Stalins Industrialisierung zu den Leitbildern seines Mobilisierungsprojekts zählt. (70) Der Klub ist im Donbass gut vernetzt, und deshalb sind wir hier.
Eine Art Komitee empfängt uns an einem langen Tisch. Wir werden gebeten, auf einer Couch Platz zu nehmen, auf der wir etwas tiefer sitzen als die Gesprächspartner auf ihren Stühlen. So schaue ich auf zu einem Herrn mit langem grauem Bart, der zu meiner Rechten sitzt und mich mit warmen, klugen Augen durchdringend ansieht. Neben ihm hat eine schmächtige, blonde Frau Platz genommen, die gleichermaßen intelligent und sensibel wirkt. Mehrere jüngere Männer assistieren. Wir werden gebeten, uns vorzustellen und unser Vorhaben zu beschreiben. Die Nachfragen sind präzise und gut informiert gestellt. Ich werde gebeten, Auskunft über die Auflagenzahlen meiner Bücher zu geben: »Halten Sie es für möglich, den Menschen in Deutschland zu erklären, dass Russland kein Feind ist?« – »Meine Bücher bewirken nur wenig«, antworte ich, »aber es wäre wünschenswert, etwas klarer über die Kriegsursachen nachzudenken, als man das derzeit in Deutschland tut.«
Meine ruhige, abgewogene Art gefällt. »Sie erhalten Nachricht«, sagt der Grauhaarige, »wir werden sehen, ob wir Ihre Reise ankieren können.« Dann sehe ich sie. Ganz links am Tisch steht eine dunkelhaarige Frau, vielleicht Anfang vierzig, gekleidet in Militärhosen mit Seitentaschen. Sie ist schlank und durchtrainiert, mit dem leicht federnden Gang von Elitesoldaten, die daran gewöhnt sind, unter Ausrüstung zu marschieren. Als ich ihr in die Augen blicke, überkommt mich ein Frösteln. Da ist etwas Kaltes, Abweisendes. Ich tauche ein in das Schwarze ihrer Augen und sehe, dass in ihrem Inneren etwas zerbrochen ist, das nicht mehr repariert werden kann. Da weiß ich: Diese Frau war im Krieg, sie hat Blut gesehen; auch sie hatte den Finger am Abzug. Seitdem hat sich etwas in ihr verändert, das nie wieder zurückkehren wird; sie hat gelernt, an einer Stelle nichts mehr zu fühlen. Am Grunde ihrer Seele, so scheint es mir, ist es kahl und leer wie auf der Schattenseite des Mondes.
»Natürlich ist das ein Angriffskrieg! Was denn sonst?« Wir treffen Denis in der Kofemanija Nowaja Ploschtschad auf der Saqdownitscheskaja. »Aber er wurde uns aufgezwungen. Wir haben doch bis zuletzt verhandelt! Alles andere ist Propaganda!« Denis ist Ende 30 und gehört zum Moskauer Regierungsapparat, eine jener Referats- oder Abteilungsleiter, die den Laden am Laufen halten. Das zweite Kind ist unterwegs, seine Frau und er haben in Deutschland studiert. Wir unterhalten uns auf Russisch und Deutsch, einer Sprache, die er akzentfrei spricht.
»Deutsch«, sagt Denis, »ist in Russland eine sehr populäre Fremdsprache!« Bei einem Frühstück mit Eiern und Speck in diesem Kaffeehaus mit schwerem rundem Kronleuchter und Holzvertäfelungen von gediegenem, luxuriösem Charme reden wir offen – so offen, wie es einem Mann des Apparats möglich ist. Aber das Wenige, was Denis erzählt, ist aufschlussreich und sagt viel über die »Vertikale der Macht« in Moskau. Hier ist nicht mehr von »Spezialoperation« die Rede.
»Was hätten wir denn tun sollen? Die Ukrainer haben sich strikt geweigert, das Minsker Abkommen umzusetzen. Im ukrainischen Verteidigungsministerium in Kiew gibt es eine abgeriegelte Etage, in der nur US-Amerikaner und Briten sitzen. Dort werden die Daten von 70 militärischen und 200 zivilen Nachrichtensatelliten zu Zielkoordinaten der ukrainischen Raketenbatterien aufbereitet. Diese Waffen liefert der Westen. Faktisch befinden wir uns in einem Krieg mit der NATO!«
Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht. Schon im Juni 2022 berichtete die New York Times, dass die CIA verdeckt in der Ukraine operiert und Mitarbeiter hauptsächlich in Kiew stationiert hat, die den Informationsfluss der USA an die ukrainische Armee koordinieren. So stellt der US-Geheimdienst den kämpfenden ukrainischen Truppen über Tablets Bilder der Satellitenaufklärung zur Zielerfassung zur Verfügung.(71) Das Unternehmen Maxar Technologies produziert und betreibt Satelliten zur Erdbeobachtung und zählt das National Reconnaissance Office ( NRO), einen der CIA unterstellten US-Militärgeheimdienst, zu seinen Stammkunden. Das NRO ist für die Bildaufklärung verantwortlich und zahlt jährlich 300 Millionen Dollar an Maxar für den Erstzugriff auf Bilder und für das Recht mitzuentscheiden, welche Regionen die vier hochauflösenden Kamera-Satelliten in den Blick nehmen. Dazu kommen weitere Anbieter wie Black Sky, Planet oder Capella Space sowie eigene geheimdienstliche Möglichkeiten.(72) In der US-amerikanischen Armeezeitung Stars and Stripes findet sich eine Reportage über das Nervenzentrum der Waffenlieferungen in Richtung Donbass, das sich in den Patch Barracks in Stuttgart-Vaihingen befindet.(73) Die ukrainische Armee nutzt auch das Starlink-Satellitennetzwerk von Elon Musk.(74)
Was Denis erzählt, ist nicht neu; auch US-amerikanische Außenpolitik-Experten teilen seine Einschätzungen. Der Politologe John J. Mearsheimer von der Universität Chicago schrieb bereits 2014 in Foreign Affairs über die Ukraine: »Die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten tragen einen großen Anteil an der Krise. Die zentrale Wurzel des Konflikts ist die NATO-Osterweiterung, das Kernstück einer umfassenderen Strategie mit dem Ziel, die Ukraine aus Russlands Einflusszone herauszuziehen und in den Westen zu integrieren. Gleichzeitig waren die EU-Osterweiterung und die westliche Unterstützung der prodemokratischen Bewegung in der Ukraine – angefangen mit der Orangenen Revolution 2004 – ebenfalls entscheidende Elemente … Für Putin war der illegale Sturz des demokratisch gewählten und prorussischen Präsidenten – den er richtigerweise als Staatsstreich bezeichnete – der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.«(75)
Mit Denis diskutieren wir, wie es zu dieser verfahrenen Lage kam – der Krieg vor dem eigentlichen Krieg: der völkerrechtswidrige Bombenangriff gegen Russlands Verbündeten Serbien im Jahr 1999; die NATO-Osterweiterung von 16 auf 28 Mitglieder, entgegen allen Zusagen an Russland; der Überfall auf den Irak 2003; die Orangene Revolution 2004 in Kiew, inszeniert nach dem Drehbuch der US-Organisation Freedom House und der Konrad-Adenauer-Stiftung, um einen russlandfreundlichen Präsidenten zu stürzen, der allerdings bei den nächsten Wahlen erneut gewann; der NATO-Gipfel in Bukarest 2008, bei dem der Ukraine und Georgien der Beitritt zur Allianz in Aussicht gestellt wurde; der Maidan-Putsch im Jahr 2014, der erneut zum Sturz des Präsidenten führte; die Aufnahme des NATO-Beitritts als Ziel in die ukrainische Verfassung im Jahr 2019, obwohl die Mehrheit der Ukrainer dagegen war; NATO-Manöver auf ukrainischem Boden; die dauerhafte NATO-Präsenz im Baltikum; die einseitige Kündigung von Abrüstungskontrollverträgen; die vom Westen geduldete Nichteinhaltung des Minsk -2- Abkommens durch die Ukraine; die Forderung von Präsident Selenskyj auf der Münchner Sicherheitskonferenz nach einem klaren Zeitfenster für den NATO-Beitritt und die Drohung, wieder eigene Atomwaffen aufzustellen.(76)
Gestützt werden Denis’ Überlegungen auch von Nina Chruschtschowa, Politologin an der New School in New York und Urenkelin des sowjetischen Staatschefs Nikita Chruschtschow: »Amerika will immer einen Krieg haben. Irgendwo. Schreiben Sie das auf, ich bin Amerikanerin! Die USA sind ein waffenvernarrtes Land. Durch jeden Krieg, den die USA führen, beweisen sie, dass sie die führende Nation der Welt sind … Der Krieg in der Ukraine ist ein perfekter Krieg für die USA, weil ein weißes Land gegen ein anderes weißes Land kämpft. Der Bösewicht kämpft gegen eine Demokratie. Und diese Demokratie hat mit Wolodymyr Selenskyj einen Hauptdarsteller, der seine Rolle wunderschön spielt.« – »Sie behaupten also, dass die USA diesen Krieg provoziert haben.« – »Absolut. Aber es ist eine freie Welt, und Putin wählte seine Rolle als Bösewicht selbst und griff die Ukraine an. Dafür sind nicht die USA verantwortlich, Putin trägt zu 100 Prozent die Schuld.« Eine Falle, vom Westen provoziert, »und dieser Idiot tappte hinein«.(77)
Wie Nina Chruschtschowa kennt Denis Wladimir Putin persönlich; nicht näher, eher so, wie ein aufstrebender Mitarbeiter den Chef eben kennt. »Putin ist ein enttäuschter Deutschland-Liebhaber. Er spricht die Sprache, hat unzählige Angebote zur Zusammenarbeit gemacht. Historisch gesehen waren die Zeiten am besten, in denen Deutschland und Russland gut zusammengearbeitet haben. Man sollte auf das hören, was den Interessen der Menschen in Deutschland dient.« Ein gebildeter Russe wie Denis denkt dabei an die Zeit der preußisch-russischen Allianz ab 1762; die Konvention von Tauroggen als Auftakt eines Bündnisses gegen Napoleon im Jahr 1812; an den Vertrag von Rapallo von 1922 zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen; an das Pjatakov-Abkommen von 1931, das die Sowjetunion zum größten Exportmarkt für deutsche Maschinen und Ausrüstungen machte; an das Erdgas-Röhren-Geschäft ab 1970, durch das sich die Bundesrepublik von der einseitigen Energieabhängigkeit von arabischen Autokratien befreite; an die neue Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt, die auf einen Ausgleich mit der Sowjetunion abzielte.
»Aber Putin hat eigentlich keine Ho nung mehr auf eine stärker eigenständige deutsche Außenpolitik, die sich nicht nur als Vasallenstaat der USA versteht, wie damals bei Willy Brandt und Hans-Dietrich Genscher.« »Siehst du überhaupt noch Ansatzpunkte für eine friedliche Lösung in der Ukraine?«
»Das ist innerhalb des Apparats umstritten«, berichtet Denis. »Die meisten hier sagen: Diese deutsche Regierung muss weg, denn sie ist lediglich ein Werkzeug der US-Amerikaner. Wie Oskar Lafontaine halten diese Leute die Politiker der Ampel-Koalition – Scholz, Baerbock, Habeck und Lindner – für treue US-Vasallen und Deutschland für ein Land ohne Souveränität.«(78) Ich antworte dann: »Was ist die Alternative? Bundeskanzler Olaf Scholz ist der Einzige in der deutschen Spitzenpolitik, der bei Waffenlieferungen etwas auf der Bremse steht. Die Grünen sind gefährliche Kriegstreiber, schlimmer noch als die CDU. Anders als in der Kuba-Krise sind die Gesprächskanäle fast komplett dicht. Scholz ist der Einzige, mit dem Putin noch reden kann.« »Ich sehe auch nicht, wie sich die Dinge verbessern könnten, wenn die Grünen eine Koalition mit der CDU bilden.« »Aber das Problem liegt tiefer. Eigentlich wissen wir nicht mehr, wem wir im Westen noch trauen können. Seit unserem Ja zur deutschen Einheit wurden alle Zusagen, die wir damals erhalten haben, gebrochen. Die NATO ist – entgegen allen Versprechen – bis vor unsere Haustür vorgedrungen. Der Westen hält sich nur an Abkommen, wenn es ihm nützt. Viele halten ihn für ›nedagaworaspasobnij‹ – das heißt nicht vertragstreu.« (79) In Moskau ist man so altmodisch daran zu glauben, dass Politik auf Interessen und Vereinbarungen beruht, um Konflikte zu vermeiden, nicht um russophobes Gerede und feministische Außenpolitik, um dann mit dem Kopf-ab-Regime in Saudi-Arabien gemeinsame Sache zu machen – oder mit Katar, das die Rechte von Frauen stark einschränkt. Das ist die Logik von Putins Apparat, der die Oligarchen zumindest teilweise politisch gebändigt hat. Nach dieser Logik kann man sich nicht einmal vorstellen, dass die Politik abgedankt haben könnte und der Profitgier von Finanzinvestoren freien Lauf lässt. Man denkt in Moskau so europäisch, dass man an politische Vernunft glaubt, obwohl im Europa der Postmoderne längst die Zerstörung der Vernunft Einzug gehalten hat.
Natürlich ist Putin ein komplexer, äußerst machtorientierter Charakter. Die zahlreichen Angebote zur Zusammenarbeit, die er während seiner ersten Amtszeit gemacht hat, blieben jedoch alle unbeantwortet vom Westen. Das musste zu dauerhaftem Frust führen. Anders als Denis nimmt Nina Chruschtschowa bei ihrer Einschätzung von Putin stärker die Einschränkung der Freiheitsrechte in Russland in den Blick: Die Nichtregierungsorganisation Memorial wurde verboten, das Gesetz über »ausländische Akteure« wird genutzt zur Unterdrückung von Dissens, und es gibt kaum eine echte Opposition in der Duma. Die Gewaltenteilung existiert praktisch nicht, und die Rolle von mächtigen Oligarchen ist undurchsichtig: »Er hat eine psychotische Vision einer russischen Welt. Er ist gefangen in einer egogetriebenen Obsession von der Wiederherstellung eines russischen Großmachtstatus mit eigenen, klar definierten Einflusssphären. Putin lebt längst in einer eigenen Realität. Er ist nicht willens, selbst offensichtliche Fehler zu korrigieren. Stattdessen reagiert er mit noch mehr Repression. Und im Krieg gegen die Ukraine eskaliert er nun weiter.« Dagegen lokalisiert der Schweizer Militärhistoriker Jacques Baud, unbestritten ein renommierter Experte für die »Operation Z«, das Problem auf der anderen Seite: »Putin ist sicherlich beunruhigt über die Reaktionen westlicher Führer, die infolge der katastrophalen ökonomischen und sozialen Lage, die sie durch ihre eigene Inkompetenz geschaffen haben, in zunehmend größere Schwierigkeiten geraten. Der Druck, der auf ihnen lastet, könnte sie den Konflikt weiter eskalieren lassen, um ihr Gesicht zu wahren.« (80) Mit anderen Worten: Putin hätte nicht gedacht, dass westliche Politiker so dumm sind, ihre eigenen Länder in den wirtschaftlichen Ruin zu treiben. Länder im Zerfall werden zu unberechenbaren Bestien, und überforderte Politiker neigen zu Affekthandlungen.(81) So weit hat es kommen müssen: Im Kreml macht man sich offenbar Sorgen um den Geisteszustand westlicher Politiker.
Eher beiläufig sagt Denis bei einem Schluck Kaffee: »Am kommenden Freitag werden wir die Referenden durchführen. In den vier Bezirken Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja werden die Wähler zu den Urnen gerufen.« Wir werfen uns einen Blick zu. Wurde dieser Schritt nicht vor ein paar Tagen bis zum Jahresende verschoben? Haben die Ukrainer nicht gerade Gelände gutgemacht? Das ist die nächste Eskalationsstufe: Nach einem Anschluss dieser vier Bezirke an die Russische Föderation wären Kampfhandlungen auf ihrem Territorium für den Kreml ein Angriff auf Russland – was einen Atomschlag rechtfertigen könnte. Eines wird dadurch auch deutlich: Was im Donbass geschieht, wird in Moskau entschieden.
Was Denis und Nina Chruschtschowa über Putin sagen, lässt mich wieder an die Plastik im Skwer Mstislaw Rostropowitsch denken: Daniel in der Löwengrube, allein auf sich gestellt, umzingelt von Bestien. Doch der rettende Engel fehlt.
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