Normalität und Pathologie Psychoanalyse und Direktbeobachtung: vereinbar oder nicht?
Normalität und Pathologie
Ein dritter Unterschied beider Disziplinen scheint substantieller zu sein als die beiden bisher genannten. Er besteht darin, daß sich die Psychoanalyse mit Pathologie, die Säuglingsforschung mit Normalität beschäftigt. Die Psychoanalyse vertritt die Auffassung, daß Pathologie und Normalität nur gradweise voneinander unterschieden sind und daß die Pathologie oft nur eine besondere Ausprägung allgemeiner und normaler Eigenschaften ist.
Verdrängung, Fixierung und Regression sind allgemein menschliche Phänomene, und bestimmte quantitative Faktoren entscheiden, ob ihr Gebrauch zu Symptomen führt oder nicht. Gerade die übertriebene Ausprägung dieser Vorgänge beim Prozeß der Symptombildung macht sie dort besonders deutlich sichtbar, während sie im Normalfall eher unauffällig und damit unzugänglicher sind.
Die Säuglingsforschung hingegen macht die Normalität, z.B. die normale Interaktion von Mutter und Kind, zu einem ihrer Hauptuntersuchungsgegenstände und behauptet erstens, daß das Studium der Pathologie oft keine gute Auskunft über den Normalfall gibt, sondern eher zu pathomorphen Verzerrungen unserer Vorstellung von Normalität führt. [*] Sie behauptet zweitens, daß man in Umkehrung der psychoanalytischen Vorgehensweise aus der Normalität viel für die Pathologie lernen kann (Bruner/Sherwood 1983, S. 40; Stern 1983, S. 81).
Das genaue Studium der normalen Interaktion gibt Hinweise auf Kräfte und Fähigkeiten, die am Werk sind, um einen guten Ausgang zu produzieren; das Fehlen einiger davon könnte verantwortlich sein für einen weniger guten Ausgang, und so schärft eine gute Kenntnis der Normalitätsfaktoren den Blick für eventuelle Mängel oder das Fehlen dieser Faktoren in Fällen mit schlechtem Ausgang.
Ich denke, daß beide Auffassungen begründet werden können und beide bestimmte Vor- und Nachteile haben (Greenspan/Porges 1984). Diese können am ehesten vermieden werden, wenn beide Vorgehensweisen miteinander kombiniert und sowohl die pathologische als auch die normale Entwicklung studiert werden. Unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten handelt es sich bei der bevorzugten Wahl eines Ansatzes um eine Entscheidung, die »vor aller empirischen Arbeit getroffen wird und letztlich nur im Hinblick auf die Fruchtbarkeit der Ergebnisse legitimiert werden kann« (Garz 1989, S. 11). Da beide Verfahrensweisen fruchtbar sind, sollten beide Berücksichtigung finden.
Fußnoten
[*] Wenn auch in geringerem Umfang, als gemeinhin angenommen wird. Weitere Ausführungen dazu in Kap. 6 und
9.
[*] Stichwort: »Psychotischer Kern« des Menschen.
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