Beobachtungstechnologie und Artefaktverdacht Der kompetente Säugling: Untersuchungsmethoden
Beobachtungstechnologie und Artefaktverdacht
Außer den genannten experimentellen Designs hat in den letzten 20 Jahren ein gewaltiger Fortschritt in den Aufzeichnungsverfahren zu einer Explosion des Wissens beigetragen. Die Verbesserung der Zeitlupentechnik bei Filmaufnahmen; die Entwicklung der Videotechnik, die ein unkompliziertes, beliebig häufiges Vor- und Zurückspulen von Aufnahmen erlaubt; die Erfindung der tragbaren Videokamera und der sogenannten split-screen-Technik, die es ermöglicht, zwei oder mehrere Bilder gleichzeitig auf einem Bildschirm nebeneinander abzuspielen: all das hat Beobachtungen ermöglicht, die mit dem bloßen Auge nicht zu machen sind. Vor allem die Details der wechselseitigen Regulierung der Interaktion und die genaue zeitliche Abgestimmtheit der in sie eingebundenen Verhaltensweisen, die sich im
Millisekundenbereich bewegt, sind dadurch erhellt worden. Infrarotkameras, mit denen Säuglinge im Dunkeln und im Schlaf störungsfrei beobachtet werden können, und komplizierte, aber nicht intrusive Apparaturen zur Aufzeichnung und Auswertung von Augenbewegungen, vokalen Äußerungen usw. vervollständigen das Bild. [*]
Bei aller Begeisterung für den technischen Fortschritt kann man sich jedoch fragen, ob eine solche technologische
Aufrüstung im Kinderzimmer und Labor nicht Artefakte produziert. Die beobachteten Säuglinge könnten ja durch die ganzen Apparaturen aufgeregt oder sensibilisiert werden und dann Ergebnisse produzieren, die untypisch sind.
Man kann sich auch fragen, ob nicht die Begeisterung und Sensibilität der Säuglingsforscher für ihre Subjekte untypisch sensible und begeisterte Säuglinge produziert hat. Haben die erzielten Resultate also überhaupt eine ökologische Validität, d.h., stellen sie Wissen dar, das für den Säugling unter natürlichen Lebensumständen aussagekräftig ist? (Kaplan 1978, S. 229f.; Golinkoff 1983, S. 186ff.).
Ich glaube, ja. Von den meisten Säuglingsforschern wird die Meinung vertreten, daß bei entsprechend einfühlsamer Handhabung des Instrumentariums durch die Anwesenheit von beobachtenden Dritten keine dauerhaft verzerrenden Effekte zu befürchten sind. Der Dritte wird schnell vergessen und/oder sein Einfluß kann erfaßt und dokumentiert werden.
Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen Thomä/Kächele (1988, S. 344ff.) hinsichtlich der Frage, ob Tonbandaufnahmen den psychoanalytischen Prozeß stören oder nicht. Auf alle Fälle überwiegen die Vorteile, und ein grundsätzliches Verdikt scheint ungerechtfertigt. [**]
Fußnoten
[*] Die grundlegenden Methoden werden in allen einschlägigen Monographien behandelt. Besonders
empfehlenswert sind, Bower (1977, 1979), Keller/Meyer (1982), Lamb/Bornstein (1987) und Rauh (1987 a).
[*] Auf die so erhobenen Befunde sind die klassischen behaviouristischen Begriffe wie Stimulus, Response und Latenz nicht mehr sinnvoll anwendbar, weil z.B. die Reaktionszeit in Interaktionen jede bekannte Latenz unterschreitet. Die Antwort (Response) ist oft in einem Maße gleichzeitig und synchron auf den Reiz abgestimmt, daß der Eindruck eines gemeinsamen Tanzes entsteht und nicht der einer linearen, nacheinander ablaufenden Sequenz (s. Stern 1977, Kap. 6).
[**] Das Artefaktproblem gibt es in jeder Forschung, auch in der Psychoanalyse. Die psychoanalytische Situation ist ebenso künstlich wie das Laborexperiment und die Frage berechtigt und erlaubt, ob die in ihr erhobenen Daten und gegebenen Deutungen valide sind. Dieses Problem beschäftigt die Psychoanalyse seit ihren Anfängen und hat die verschiedensten Lösungsvorschläge nach sich gezogen, die hier nicht diskutiert werden können. Ausweichen kann man diesem Problem nicht.
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