IZ: 5.3 Emotionen – die Sprache der Zellen

In höheren, bewußteren Lebensformen entwickelte das Gehirn eine Spezialisierung, die
es dem gesamten System ermöglichte, sich auf seine regulatorischen Signale einzusch­wingen.

 

Die Evolution des limbischen Systems erzeugte einen einzigartigen Mechanis­mus, der die chemischen Kommunikationssignale in Empfindungen übersetzte, die von allen Zellen der Gemeinschaft wahrgenommen werden konnten.

 

In unserem Bewußtsein erfahren wir diese Signale als Emotionen. Das Bewußtsein nimmt nicht nur den Fluß der koordinierenden Zellsignale wahr, sondern kann auch Emotionen erzeugen, die sich im Nervensystem in Form kontrollierter Freisetzung von regulatorischen Signalen mani­festieren.

 

Zur gleichen Zeit, in der ich mich mit dem Gehirn der Zelle und seinen Parallelen zum menschlichen Gehirn befaßte, untersuchte Candace Pert das menschliche Gehirn und er­kannte die Parallelen zu den Funktionsweisen des zellulären Gehirns. In ihrem Buch MOLEKÜLE DER GEFÜHLE erzählt Candace Pert, wie ihre Erforschung der informations­verarbeitenden Rezeptoren in den Nervenzellmembranen zu der Entdeckung führte, daß die gleichen »neuralen« Rezeptoren in den meisten, wenn nicht gar in allen Körperzel­len auftreten.

 

Ihre raffinierten Experimente offenbarten, daß der menschliche Geist nicht nur im Kopf sitzt, sondern durch Signalmoleküle im ganzen Körper verteilt ist. Genauso wichtig war ihre Erkenntnis, daß Emotionen nicht nur durch ein Feedback der Um­weltinformationen des Körpers entstehen, sondern daß der seiner selbst bewußte Geist auch durch das Gehirn »Gefühlsmoleküle« erzeugen und das System damit überlagern kann.

 

So kann der angemessene Einsatz des Bewußtseins einen kranken Körper gesun­den lassen, während eine unangemessene Kontrolle der Gefühle einen gesunden Körper krank machen kann.

 

Im sechsten und siebten Kapitel werde ich noch weiter auf dieses Thema eingehen. MOLEKÜLE DER GEFÜHLE ist ein hochinteressantes Buch über die wis­senschaftliche Entdeckung dieses Zusammenhangs. Es berichtet unter anderem auch über die Schwierigkeiten, denen man begegnet, wenn man in den eingefahrenen Wis­senschafts-Club neue Ideen einbringt – ein Thema, das mir nur allzu bekannt ist! [Pert 1997]

 

Durch seine Fähigkeit, den Fluß der verhaltensregulierenden Signale in der Zellgemein­schaft zu spüren und zu koordinieren, stellte das limbische System einen großen evoluti­onären Fortschritt dar. Je effizienter sich das interne Signalsystem entwickelte, desto größer konnte das Gehirn werden. Die mehrzelligen Organismen entwickelten immer mehr Zellen, die auf eine zunehmende Anzahl von äußeren Umweltreizen reagieren konnten. Eine einzelne Zelle kann auf einfache sensorische Wahrnehmungen wie rot, rund, aromatisch und süß reagieren, doch erst die zusätzliche Geisteskraft der mehrzelli­gen Lebewesen kann diese einfachen Empfindungen zu einer höheren Komplexität zu­sammensetzen und den Apfel erkennen.

 

Evolutionär erlerntes, grundlegendes Reflexverhalten wird durch genetisch festgelegte Instinkte an die Nachkommen weitergegeben. Die Evolution des größeren Gehirns mit seiner höheren Anzahl von Neuralzellen bot den Organismen die Chance, sich nicht nur auf instinktives Verhalten zu verlassen, sondern auch aus Lebenserfahrungen zu lernen. Neues Reflexverhalten entsteht durch Konditionierung.

 

Das klassische Beispiel dafür sind die Hunde, denen Pawlow beibrachte, beim Klingeln einer Glocke zu geifern. Zu­erst konditionierte er sie darauf, daß dem Klingeln einer Glocke eine Futtergabe folgte. Nach einer Weile ließ er die Glocke ertönen, ohne Futter anzubieten. Die Hunde waren inzwischen so programmiert, daß sie beim Klang der Glocke automatisch zu geifern an­fingen, auch wenn weit und breit kein Futter war. Dies war eindeutig ein unbewußtes, erlerntes Reflexverhalten.

 

Es gibt sehr einfache Reflexverhalten wie das Ausschlagen des Beins, wenn das Reflex­hämmerchen auf das Knie schlägt, und sehr komplexe wie mit hundert Stundenkilome­tern bei dichtem Verkehr über die Autobahn zu fahren, während man gleichzeitig tief in ein Gespräch verwickelt ist.

 

Konditionierte Verhaltensweisen können so anspruchsvoll sein, wie sie wollen, man braucht dabei nicht zu denken. Die neuralen Verbindungen zwischen dem auslösenden Reiz und der Reaktion sind durch den Lernprozeß so fest »verdrahtet«, daß eine immer gleiche Reaktion sichergestellt ist. Man nennt solche fest verankerten Reaktionsmuster auch »Gewohnheiten«.

 

Bei niederen Tieren dient das ge­samte Gehirn der rein gewohnheitsmäßigen Reaktion auf Reize. Pawlows Hunde sab­bern reflexhaft, nicht absichtlich. Das Unterbewußtsein handelt immer reflexhaft, es un­terliegt nicht der Vernunft oder dem Denken. Physisch gesehen wird diese Art des Be­wußtseins mit den Aktivitäten jener Gehirnstrukturen assoziiert, die in nicht selbstbe­wußten Tieren vorkommen.

 

Menschen und eine Reihe anderer, höherer Tiere haben einen besonderen Bereich des Gehirns entwickelt, mit dem sie denken, planen und Entscheidungen treffen – die vorde­re Großhirnrinde. Dieser Bereich des Vorderhirns ist offensichtlich der Sitz des selbst­bewußten Denkvermögens. Der selbstbewußte Geist kann sich selbst reflektieren. Er ist eine Art Sinnesorgan, mit dem wir unser eigenes Verhalten und unsere Gefühle überwa­chen. Der selbstbewußte Geist kann sich auch der meisten Daten unserer langfristig ge­speicherten Erinnerungen bedienen. Dies ist eine äußerst wichtige Fähigkeit, die es uns erlaubt, unsere Zukunft in Anbetracht unserer Geschichte zu planen.

 

Die Fähigkeit der Selbst-Reflexion verleiht dem selbstbewußten Geist große Macht. Er kann unser pro­grammiertes Verhalten beobachten, das Verhalten bewerten und sich entscheiden, die­ses Verhalten zu verändern. Wir können aktiv wählen, ob und wie wir auf die meisten Umweltsignale reagieren wollen. Die Fähigkeit des Bewußtseins, die vorprogrammier­ten Verhaltensweisen des Unterbewußtseins zu verändern, ist die Grundlage unseres freien Willens.

 

Diese besondere Gabe geht jedoch mit einer besonderen Schwäche einher. Während fast alle anderen Organismen die Reize unmittelbar erfahren müssen, ist die Lernfähigkeit des Gehirns so weit entwickelt, daß wir Wahrnehmungen auch indirekt von unseren Lehrern übernehmen können. Und wenn wir dann diese Wahrnehmungen anderer erst mal als »Wahrheiten« akzeptiert haben, dann verankert sich diese Sichtweise in unse­rem eigenen Gehirn und wird zu unserer eigenen »Wahrheit«. Doch was ist, wenn die Wahrnehmung unserer Lehrer unzutreffend ist? Dann wird unser Gehirn mit Fehlwahr­nehmungen gefüttert.

 

Das Unterbewußtsein reagiert auf Reize gemäß seiner Program­mierung – es gibt in diesem Bereich nichts, was sich über die langfristigen Konsequen­zen unserer Programmierungen Gedanken machen könnte. Das Unterbewußtsein wirkt nur im Jetzt.

 

Unsere einprogrammierten Fehleinschätzungen werden also nicht über­prüft, weshalb wir uns in manchen Dingen immer wieder auf unangemessene Weise verhalten.Wenn ich als besonderen »Zaubertrick« in dieses Kapitel eine Schlange hereinge­schmuggelt hätte, die Ihnen jetzt aus den Seiten heraus entgegenzischt, würden die meisten von Ihnen aus dem Zimmer rennen oder das Buch aus dem Fenster werfen, weil, wer auch immer Sie das erste Mal mit Schlangen bekannt machte, Ihnen dabei ver­mittelt hat: Schlange – böse! Das unterbewußte Gedächtnis reagiert blitzschnell auf Wahrnehmungen Ihrer Umgebung, die es als gefährlich einstuft.

 

Wenn Sie also gelernt haben, daß Schlangen gefährlich sind, werden Sie jedes Mal, ohne darüber nachzuden­ken, flüchten oder sich schützen, wenn Sie eine Schlange in Ihrer Nähe sehen.

 

Doch wenn ein Herpetologe (ein Reptilienkundler) dieses Buch läse und eine Schlange daraus hervorspränge, wäre er von diesem besonderen Effekt wahrscheinlich begeistert – jedenfalls nachdem er sich vergewissert hat, daß die Schlange harmlos ist. Er würde die Schlange nehmen und sich an ihr freuen. Und er würde Ihr reflexhaftes Verhalten vermutlich für irrational halten, weil nicht alle Schlangen gefährlich sind. Vielleicht wäre er auch betrübt darüber, daß so viele Menschen nicht in den Genuß kommen, sich mit diesen hochinteressanten Tieren näher zu beschäftigen.

 

Die gleiche Schlange, der gleiche Reiz – und völlig unterschiedliche Reaktionen.Unsere Reaktionen auf Umweltreize werden durch unsere Wahrnehmungen gesteuert, doch nicht alle unsere erlernten Wahrnehmungen sind zutreffend. Nicht alle Schlangen sind gefährlich! Ja, die Wahrnehmung steuert die Biologie, doch wie wir gesehen ha­ben, kann die Wahrnehmung zutreffend oder falsch sein. Daher wäre es richtiger, diese steuernde Wahrnehmung als Überzeugung zu bezeichnen.

 

Unsere Überzeugungen steuern unsere Biologie!

 

Lassen Sie diesen Satz einen Augenblick auf sich wirken. Wir sind in der Lage, unsere
Reaktionen auf Umweltreize bewußt zu überprüfen und jederzeit alte Verhaltensweisen
zu ändern – wenn wir uns dem mächtigen Unterbewußtsein stellen, über das ich im
siebten Kapitel noch mehr sagen werde. Wir sind weder unseren Genen noch unseren
Schutzreflexen hilflos ausgeliefert!