IZ: 6.2 Angst bringt uns um

Erinnern Sie sich an die schreckensstarren Gesichter meiner Studenten in der Karibik,
als sie in meinem Test durchgefallen waren? Wären sie in dieser Schreckstarre verblie­ben, so wären sie in den Abschlußprüfungen sicher durchgefallen, denn wenn man
Angst hat, ist man einfach dümmer. Lehrer erleben das immer wieder bei Schülern mit
Prüfungsangst. In ihrer Panik können sie mit ihren zitternden Händen nicht die richtigen
Antworten ankreuzen, weil sie keinen Zugang mehr zu der sorgfältig erlernten Informa­tion haben.

 

Das HHN-System funktioniert wunderbar, wenn es darauf ankommt, mit akutem Streß umzugehen. Dieses Schutzsystem eignet sich jedoch nicht dazu, ständig aktiviert zu sein. In der heutigen Welt bestehen die meisten unserer Streßfaktoren nicht aus akuten, konkreten »Bedrohungen«, die wir eindeutig identifizieren, auf die wir reagieren und die wir dann abhaken könnten.

 

Wir leiden ständig unter einer Vielzahl unlösbarer Sor­gen in Bezug auf unser persönliches Leben, unsere Arbeit und unsere durch Kriege und Katastrophen geplagte globale Gemeinschaft. Solche Bedrohungen gefährden zwar nicht unser unmittelbares Überleben, aber sie aktivieren unsere HHN-Achse, was zu ei­nem chronisch hohen Streßhormonspiegel führt.

 

Um die schädliche Wirkung eines anhaltend hohen Adrenalinspiegels zu verdeutlichen, nehmen wir das Beispiel eines Wettrennens. Eine bestens trainierte, gesunde Gruppe von Spitzensportlern tritt an die Startlinie. Die Ansage ertönt: »Auf die Plätze!« Die Läufer knien nieder und richten ihre Füße in den Startblöcken ein. Dann ertönt das Kommando: »Fertig.« Die Muskeln der Sportler spannen sich an, und sie erheben sich auf Zehenspitzen und Fingerspitzen. Bei dem Kommando »Fertig« wird in ihren Kör­pern das Hormon der Fluchtreaktion, Adrenalin, freigesetzt, um die Muskeln auf die an­strengende Aufgabe vorzubereiten, die vor ihnen liegt.

 

Während sie auf das Kommando »Los« warten, sind ihre Körper aufs Äußerste angespannt. In einem normalen Wettlauf währt diese Anspannung nur ein bis zwei Sekunden, dann ertönt das Kommando »Los!«. In unserer Metapher warten wir jedoch ewig auf das erlösende »Los«. Die Sportler stehen in den Startlöchern, das adrenalinhaltige Blut rauscht durch ihre Adern und die Körper ermüden durch die Erwartung eines Rennens, das nie stattfindet.

 

Sie können so fit sein, wie sie wollen – kein Mensch kann eine solche Anspannung länger als ein paar Minuten aushalten. Wir leben in einer Welt des »Auf die Plätze – Fertig«. Immer mehr Untersuchungen weisen darauf hin, daß unser angespannter Lebensstil gesundheitsschädlich ist.

 

Unsere täglichen Streßfaktoren aktivieren ständig unsere HHN-Achse und versetzen den Körper in Aktionsbereitschaft. Im Gegensatz zu dem Sportler, der seine Anspannung dann in körperliche Aktivität umsetzen kann, werden wir den durch Angst und Sorgen erzeug­ten Streß niemals ganz los. Beinahe jede der weit verbreiteten Zivilisationskrankheiten wird mit chronischem Streß in Verbindung gebracht [Segerstrom und Miller 2004; Kopp und Réthelyi 2004; McEwen und Lasley 2002; McEwen und Seeman 1999].

 

Das Magazin Science veröffentlichte 2003 eine interessante Studie darüber, warum sich Patienten nach der Einnahme von SSRI-Antidepressiva wie Fluctin (Fluoxetin, Prozac) oder Zoloft (Sertralin, Gladem) nicht sofort besser fühlen. In der Regel dauert es min­destens zwei Wochen, bis eine spürbare Wirkung eintritt. Die Studie ergab, daß bei de­pressiven Menschen die Zellteilung in einem Bereich des Gehirns namens Hippocampus stark reduziert ist. Der Hippocampus ist ein Teil des Nervensystems, der mit dem Ge­dächtnis zu tun hat. Die Zellteilung im Hippocampus kam zu der gleichen Zeit wieder in Gang, als die Patienten eine Stimmungsaufhellung durch die Medikamente verspürten, oft Wochen nach Beginn der Einnahme.

 

Diese und andere Untersuchungen stellen die Theorie in Frage, daß Depression einfach ein »chemisches Ungleichgewicht« im Gehirn sei, das die Produktion von Monoamin-Botenstoffen, besonders des Serotonins beein­trächtigt. Wenn es wirklich so einfach wäre, müßte das chemische Gleichgewicht be­reits kurz nach der Einnahme wiederhergestellt sein.

 

Immer mehr Forscher sehen in der Unterdrückung des neuronalen Wachstums durch Streßhormone eine der Ursachen für Depressionen. Bei chronisch depressiven Men­schen sind der Hippocampus und die vordere Großhirnrinde, der Bereich des vernünfti­gen Denkens, deutlich verkleinert. In einem Artikel über diese Studie steht in Science:»In den letzten Jahren hat die Streßhypothese gegenüber der Monoamin-Hy­pothese an Gewicht gewonnen. Sie geht davon aus, daß Depression entsteht, wenn die Streß-Maschinerie des Gehirns überlastet ist. Der wichtigste Faktor in dieser Theorie ist die HHN-Achse.« [Holden 2003]

 

Die Wirkung der HHN-Achse auf die Zellgemeinschaft läßt sich mit dem Effekt von Streß in einer menschlichen Bevölkerung vergleichen. Versetzen wir uns zurück in die Zeit des Kalten Krieges, als die Amerikaner sich vor kaum etwas mehr fürchteten als vor einem Atombombenangriff durch die Russen. Stellen Sie sich eine lebendige Ge­meinde vor, die genau wie die Zellen eines Organismus aktiv zusammenarbeitet, um das eigene und das gemeinschaftliche Wohl zu sichern und gut miteinander auszukommen. Die Fabriken produzieren, die Bauleute errichten neue Häuser, die Läden verkaufen ihre Waren und die Kinder lernen in der Schule ihr ABC. Die Gemeinschaft ist gesund und wächst, weil ihre Mitglieder auf ein gemeinsames Ziel hinwirken.

 

Plötzlich ertönt die Luftschutzsirene. Alle unterbrechen, was sie gerade tun, und rennen in die Schutzräume. Die Harmonie der Gemeinde reißt ab, da jeder nur sein eigenes Überleben im Sinn hat und um Zugang zu den Schutzräumen kämpft. Nach fünf Minu­ten ertönt das Entwarnungssignal. Die Bürger kehren zu ihren Arbeitsplätzen zurück und nehmen ihr normales Leben in ihrer blühenden Gemeinschaft wieder auf.

 

Doch was wäre, wenn es kein Entwarnungssignal gäbe, das die Menschen wieder erlöst? Die Leute würden ewig in ihrer Schutzhaltung bleiben. Wie lange ließe die sich aufrechterhalten? Irgendwann würde die Gemeinschaft zusammenbrechen, spätestens wenn die Vorräte knapp werden. Eine kurze Streßphase, etwa einen Probealarm, kann eine Gemeinschaft gut verkraften, doch wenn der Streß andauert, findet kein Wachstum mehr statt und die Gemeinschaft bricht irgendwann auseinander.Ein weiteres Beispiel für eine Bevölkerung unter Streß ist die Tragödie des 11. Septem­ber.

 

Bis zu dem Terrorangriff befanden sich die USA in einer Wachstumsphase. Als un­mittelbar danach die Schockwelle nicht nur New York, sondern die gesamte Nation er­griff, fühlten wir uns alle in unserem Überleben bedroht. Die Regierungserklärungen, die immer wieder betonten, die Gefahr bestehe weiterhin, wirkten wie nationales Ad­renalin.

 

Sie versetzten die Mitglieder der Gemeinschaft von einer Wachstumshaltung in eine Schutzhaltung. Nach ein paar Tagen dieser drückenden Angst brach die Ökonomie des Landes derartig ein, daß der Präsident einschreiten mußte. Immer wieder betonte er, »America is open for business« (Das Geschäftsleben läuft ganz normal weiter), um das Wachstum wieder anzuregen. Es dauerte eine Weile, bis die Angst nachließ und die Wirtschaft wieder anzog. Die terroristische Bedrohung schwächt die USA jedoch nach wie vor.

 

Wir sollten mehr darauf achten, wie unsere Angst vor Terroranschlägen unsere Lebensqualität untergräbt. In gewissem Sinne haben die Terroristen bereits gesiegt, denn es ist ihnen gelungen, die Bevölkerung in eine chronische Schutzhaltung zu verset­zen, die an den seelischen Kräften zehrt.

 

Überprüfen Sie doch einmal selbst, welchen Einfluß Ihre Ängste und die daraus folgen­den Schutzhaltungen auf Ihr Leben haben. Welche Ängste behindern Ihr Wachstum? Woher stammen diese Ängste? Sind sie nötig? Sind sie begründet? Bereichern sie Ihr Leben?

 

Im nächsten Kapitel werden wir uns noch intensiver mit diesen Ängsten und ih­rer Entstehung befassen. Wenn wir unsere Ängste in den Griff bekommen, können wir die Kontrolle über unser Leben zurückgewinnen.

 

Präsident Franklin D. Roosevelt hatte die zerstörerische Kraft der Angst im Sinn, als er angesichts der Weltwirtschaftskrise und eines drohenden Weltkrieges sagte: »Wir haben nichts zu befürchten außer der Furcht.« Unsere Ängste loszulassen ist der erste Schritt zu einem erfüllteren, zufriede­neren Leben.