Siegler: Die Entwicklung von Kindern

 

Im Jahre 1955 begann eine mit der Kindesentwicklung befasste Forschergruppe eine bislang einzigartige Untersuchung. Wie bei vielen entwicklungs-psychologischen Forschern bestand ihr Ziel herauszufinden, wie sich biologische und umweltbedingte Faktoren auf das intellektuelle, soziale und emotionale Wachstum von Kindern auswirken. Dieses Forschungsvorhaben war insofern einzigartig, als all die verschiedenen Entwicklungsaspekte an allen 698 Kindern untersucht wurden, die in dem betreffenden Jahr auf der Hawaii-Insel Kauai geboren wurden, und die Untersuchungen an den Kindern und ihren Eltern über mehr als 30 Jahre hinweg weitergeführt wurden.


Die Projektgruppe unter der Leitung von Emmy Werner hatte von den Eltern die Zustimmung erhalten, eine ganze Reihe von Daten über die Entwicklung der Kinder zu erheben. Um etwas über etwaige Komplikationen vor oder während der Geburt zu erfahren, nahmen die Forscher Einsicht in die ärztlichen Unterlagen. Informationen über das Verhalten der Kinder in ihrer Familie und über deren Zusammenleben erhielten sie von Erzieherinnen und Sozialarbeitern, die die Familien beobachteten und die Mütter befragten: einmal, als ihr Kind ein Jahr alt war, und dann noch einmal mit zehn Jahren.


Weiterhin führte die Forschergruppe Interviews mit den Lehrkräften der Kinder, um etwas über deren schulische Leistungen und ihr Verhalten in den Grundschulklassen zu erfahren. Es wurden Akten von Polizei, Familiengericht und sozialen Einrichtungen durchgesehen, sofern die Kinder – als Opfer oder Täter – betroffen waren. Schließlich wurden die Kinder im Alter von zehn und 18 Jahren standardisierten Intelligenz- und Persönlichkeitstests unterzogen; mit 18 und mit Anfang 30 wurden sie interviewt, wie sie ihre eigene Entwicklung einschätzen.


Die Ergebnisse dieser Untersuchung illustrieren einige der vielfa¨ltigen Weisen, auf die biologische und umweltbedingte Faktoren gemeinsam die Kindesentwicklung beeinflussen. Wenn in der Schwangerschaft oder bei der Geburt Komplikationen und demzufolge biologische Risiken auftraten, entwickelten die Kinder mit größerer Wahrscheinlichkeit körperliche Behinderungen, Geisteskrankheiten und Lernschwierigkeiten als andere Kinder.


Die Qualität der häuslichen Umwelt schien jedoch für die Kindesentwicklung eine noch größere Rolle zu spielen. Das Einkommen der Eltern, ihr Bildungsstand und ihre geistige Gesundheit wirkten sich – zusammen mit der Qualität der Beziehung zwischen den Eltern – besonders stark auf die spätere Entwicklung der Kinder aus. Mit zwei Jahren waren Kinder, bei deren Geburt ernste Schwierigkeiten aufgetreten waren, die jedoch in harmonischen Familien mit mittlerem Einkommen lebten, in ihren sprachlichen und motorischen Fähigkeiten fast so weit wie Kinder ohne entsprechende Anfangsprobleme. Im Alter von zehn Jahren gingen Probleme vor oder während der Geburt generell nur dann mit einer beeinträchtigten psychischen Entwicklung einher, wenn das Kind zugleich unter schlechten Bedingungen aufwuchs.


Was geschah mit den Kindern, denen sowohl die Biologie als auch die Umwelt einiges abverlangte – in Form von Komplikationen bei Schwangerschaft oder Geburt und in Form von ungünstigen Familienbedingungen? Die Mehrzahl solcher Kinder entwickelte mit zehn Jahren schwere Lern- oder Verhaltensprobleme. Mit 18 waren die meisten polizeilich erfasst, hatten Probleme mit ihrer geistigen und psychischen Gesundheit oder waren bereits schwanger.


Ein Drittel solcher Risikokinder wuchs jedoch zu Erwachsenen heran, von denen Werner (1989, S. 109) sagte: „[they] loved well, worked well, and played well“ – bei denen also in Beziehung, Arbeit und Freizeit alles zum Besten stand. Bei diesen Kindern gab es oft einen Erwachsenen außerhalb der unmittelbaren Familie – Onkel, Tante, Nachbar, Lehrer oder Geistlicher – , der sich ihrer angenommen hatte und sie durch Verlockungen und Gefahren ihrer Umgebung gut hindurchlotste. Diese Fähigkeit von Kindern und Er-
wachsenen, auch bei widrigen Umsta¨nden physisch und psychisch gesund zu bleiben, nennt man Resilienz.


Ein derart widerstandsfähiges Kind war Michael. Er war eine untergewichtige Frühgeburt, seine Eltern waren selbst noch nicht erwachsen, und er verbrachte die ersten drei Lebenswochen im Krankenhaus getrennt von seiner Mutter. Als er acht Jahre alt wurde, waren seine Eltern geschieden, die Mutter hatte die Familie endgültig verlassen, und sein Vater versorgte ihn und seine drei Geschwister mit Unterstützung der schon recht alten Großeltern. Mit 18 jedoch war Michael ein erfolgreicher und beliebter Schüler mit großem Selbstbewusstsein, ein empathischer junger Mann mit einer positiven Lebenseinstellung. Die Tatsache, dass es viele solcher Michaels gibt – Kinder mit hoher Resilienz trotz widrigster Umstände – , gehört zu den ermutigendsten Ergebnissen entwicklungspsychologischer Forschung.


Emmy Werners bemerkenswerte Untersuchung wirft, wie das bei Untersuchungen zur Kindesentwicklung häufig der Fall ist, mindestens so viele Fragen auf, wie sie beantwortet. Wie genau formt sich die Entwicklung im Zusammenspiel aus der biologischen Anlage der Kinder, ihrer familiären Umgebung und den Umwelten außerhalb der Familie? Hätte die Untersuchung dieselben Ergebnisse erbracht, wenn sie an einer vorwiegend afro-amerikanischen oder lateinamerikanischen städtischen Bevölkerung durchgeführt worden wäre statt an den überwiegend asiatisch, hawaiianisch und nordeuropäisch geprägten ländlichen Einwohnern von Kauai? War es nur Zufall, dass manche Kinder aus ungünstigen Familienverhältnissen außerhalb der eigentlichen Familie einen befreundeten Erwachsenen fanden, der sich ihrer annahm, oder vermochten ihre individuellen Eigenschaften, ihre Persönlichkeit beispielsweise, die Freundschaft und Hilfe anderer besonders anzuziehen? Kann man Hilfsprogramme entwerfen, mit denen mehr Kinder ihre schwierigen Familienverhältnisse überwinden?


Das vorliegende Kapitel gibt eine Einführung in die genannten und weitere Grundfragen der  Kindesentwicklung. Bis zum Ende der Lektüre sollte deutlich geworden sein, warum es sich lohnt, die Entwicklung von Kindern zu untersuchen, was die Forscher über den Entwicklungsprozess herausfinden wollen und mit welchen Methoden sie dabei vorgehen.