25 Ich kündige

Brunos Entlassung traf MAIN wie ein Erdbeben. In der ganzen Firma entstand Unruhe, und Meinungsverschiedenheiten waren an der Tagesordnung. Bruno hatte natürlich auch Feinde, aber selbst sie waren bestürzt. Für viele Mitarbeiter war klar, daß Eifersucht das Motiv gewesen war. In den Diskussionen beim Mittagessen oder in der Kaffeepause äußerten viele hinter vorgehaltener Hand die Ansicht, daß Hall sich durch
Bruno bedroht gefühlt habe. Bruno war fünfzehn Jahre jünger als Hall und hatte neue Geschäftsfelder für die Firma erschlossen. »Hall konnte nicht zulassen, daß Bruno weiter so brillierte«, sagte einer. »Hall wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis Bruno alles übernehmen und er in Rente geschickt werden würde.« Als ob Hall diese Spekulationen bestätigen wollte, ernannte er Paul Priddy zum neuen Präsidenten. Paul war seit Jahren Vizepräsident und ein liebenswürdiger Kerl, der mit Leib und Seele Ingenieur war. Meiner Meinung nach hatte er wenig Rückgrat und war jemand, der sich den Launen des Vorsitzenden stets beugen würde. Ich stand mit meiner
Meinung nicht allein.


Für mich war Brunos Entlassung ein schwerer Schlag. Er war mein Mentor und der Dreh- und Angelpunkt unserer internationalen Arbeit gewesen. Priddy dagegen hatte sich bisher auf Aufträge im Inland konzentriert und wußte (wenn überhaupt) nur wenig über die wahre Natur unserer Auslandsaufträge. Ich fragte mich, wohin das Unternehmen steuern würde. Ich rief Bruno zu Hause an. Er war in philosophischer Stimmung. »Tja, John, er wußte, daß er keinen Grund hatte«, meinte er über Hall, »deshalb habe ich eine sehr hohe Abfindung verlangt und sie bekommen. Mac hält einen großen Anteil stimmberechtigter Aktien. Sobald er sich entschieden hatte, konnte ich nichts dagegen unternehmen.« Bruno deutete an, er habe mehrere Angebote für hochrangige Positionen bei multinationalen Banken, die zu unseren Kunden gehörten. Ich fragte ihn, was ich seiner Meinung nach tun sollte. »Halten Sie die Augen offen«, riet er. »Mac Hall hat den Kontakt zur Realität verloren, aber das wird ihm niemand sagen – vor allem nicht jetzt, nach dem, was er mit mir gemacht hat.«


Ende März 1980 machte ich einen Segeltrip zu den Virgin Islands. Ich war immer noch erschüttert wegen dieser Entlassung. Bei meinem Urlaub begleitete mich »Mary«, eine junge Frau, die ebenfalls für MAIN arbeitete. Obwohl ich mir bei der Auswahl des Urlaubsziels nichts gedacht hatte, weiß ich heute, daß die Geschichte der Region ein wichtiger Faktor war, der mir bei der Entscheidung half, meinen Neujahrsvorsatz in die Tat umzusetzen. Eine erste Ahnung hatte ich eines Nachmittags, als wir St. John Island umrundeten und im Sir Francis Drake Channel kreuzten, der die amerikanischen von den britischen Virgin Islands trennt. Der Kanal ist natürlich nach dem englischen Freibeuter benannt, der die mit Gold beladenen spanischen Schiffe kaperte. Der Name erinnerte mich daran, daß ich in den letzten zehn Jahren immer wieder über Piraten und andere historische Figuren nachgedacht hatte, Männer wie Drake und Sir Henry Morgan, die geraubt und geplündert hatten und doch für ihre Taten gerühmt, ja sogar geadelt worden waren. Ich hatte mich oft gefragt, warum ich Gewissensbisse haben sollte, Länder wie Indonesien, Panama, Kolumbien und Ecuador auszuplündern, obwohl ich damit aufgewachsen war, solche Männer zu bewundern. Viele meiner Helden (Ethan Allen, Thomas Jefferson, George Washington, Daniel Boone, Davy Crockett, Lewis und Clark, um nur einige zu nennen) hatten Indianer, Sklaven und erobertes Land ausgebeutet. Ich hatte mich an ihr Beispiel geklammert und damit meine Schuldgefühle beschwichtigt. Aber als wir jetzt im Sir Francis Drake Channel kreuzte, erkannte ich, wie dumm solche vermeintlich vernünftigen Rechtfertigungen waren. Mir fielen wieder Dinge ein, die ich im Lauf der Jahre aus Bequemlichkeit ignoriert hatte. Ethan Allen verbrachte Monate auf stinkenden, überfüllten britischen Gefängnisschiffen, wo er meist an 15 Kilo schwere Eisenketten gefesselt war. Danach war er in britischen Kerkern eingesperrt. Er war 1775 in der Schlacht von Montreal in Kriegsgefangenschaft geraten, weil er für die gleiche Art von Freiheit gekämpft hatte, die heute Jaime Roldós und Omar Torrijos für ihr Volk einforderten. Thomas Jefferson, George Washington und die anderen Gründerväter hatten ebenfalls ihr Leben für diese Ideale riskiert. Der Sieg der amerikanischen Revolution stand nicht von vornherein fest; die Beteiligten wußten, wenn sie unterlagen, würde man sie aufhängen wie Verräter. Daniel Boone, Davy Crockett und Lewis und Clark hatten ebenfalls große Entbehrungen auf sich genommen und viele Opfer gebracht. Und Drake und Morgan? Meine Kenntnisse ihrer Zeit waren dürftig, aber ich erinnerte mich, daß das protestantische England damals vom katholischen Spanien arg bedrängt wurde. Ich mußte einräumen, daß Drake und Morgan wahrscheinlich Freibeuter geworden waren, um das spanische Weltreich an seiner verwundbarsten Stelle zu treffen, nämlich dem Zufluß von Gold aus den Kolonien. Dahinter stand nicht das Streben, das eigene Imperium auszudehnen, sondern die Notwendigkeit, England zu schützen.


Während wir den Kanal hinaufsegelten, im Wind kreuzten und uns ganz langsam den Felsen näherten, die sich aus dem Meer erhoben (Im Norden Great Thatch Island und im Süden St. John), ging mir diese Überlegung nicht mehr aus dem Kopf. Mary reichte mir ein Bier und drehte den Kassettenrekorder bei einem Song von Jimmy Buffett lauter. Aber trotz der Schönheit der Landschaft und dem Gefühl der Freiheit, das mir das Segeln normalerweise gibt, war ich gereizt. Ich versuchte, meine Gefühle zu verdrängen, und stürzte das Bier hinunter. Aber es gelang mir nicht. Ich war wütend über die Stimmen aus der Vergangenheit. Ich hatte sie benutzt, um meine eigene Gier zu rechtfertigen. Ich war böse auf meine Eltern und auf Tilton, diese selbstgerechte Privatschule auf dem Hügel, denn sie hatten mich meine Sichtweise der Geschichte gelehrt. Ich machte noch ein Bier auf. Ich hätte Mac Hall umbringen können, weil er Bruno entlassen hatte. Ein Holzboot mit einer Regenbogenflagge kam uns entgegen und zog mit vollen Segeln an uns vorbei. Ein halbes Dutzend junger Männer und Frauen riefen und winkten uns zu, Hippies in leuchtend bunten Sarongs, ein Paar auf dem Vordeck war splitternackt. Nach dem Zustand des Bootes und ihrem Aussehen zu urteilen, lebten sie an Bord, eine Kommune, moderne Piraten, frei und ungebunden. Ich wollte zurückwinken, aber meine Hand gehorchte mir nicht. Ich war überwältigt vor Neid. Mary stand an Deck und sah dem Boot nach, das hinter unserem Heck verschwand. »Wie würde dir so ein Leben gefallen?«, fragte sie. Und da begriff ich. Es ging nicht um meine Eltern, um Tilton oder Mac Hall. Ich haßte mein Leben. Mich. Ich allein war dafür verantwortlich, und deswegen haßte ich mich. Mary rief etwas. Sie zeigte Richtung Steuerbord. Dann kam sie zu mir. »Leinster Bay«, sagte sie. »Unser Ankerplatz heute Abend.«

 

Da lag die kleine Bucht von St. John Island, in der einst Piratenschiffe den Galeonen aufgelauert hatten, die durch diesen Kanal segeln mußten. Ich übergab das Ruder an Mary und ging aufs Vordeck. Während sie die Jacht um Watermelon Cay herum in die schöne Bucht steuerte, ließ ich den Klüver fallen und nahm den Anker aus seiner Befestigung. Mary holte geschickt das Großsegel ein. Ich warf den Anker über die Bootskante, die Kette ratterte hinunter in das kristallklare Wasser. Das Boot driftete zu seinem Ankerplatz. Nach dem Anlegen ging Mary schwimmen und hielt dann ein Nickerchen. Ich schrieb ihr einen Zettel und ruderte mit dem Beiboot an Land. Ich setzte es direkt unterhalb der Ruinen einer alten Zuckerrohrplantage auf den Strand. Lange saß ich dort am Wasser und versuchte, nicht nachzudenken, sondern konzentrierte mich darauf, jegliche Emotion zu verbannen. Aber es funktionierte nicht.


Später am Nachmittag kletterte ich den steilen Hang hinauf und stand dann zwischen den zerfallenen Mauern der einstigen Plantage. Ich blickte auf unsere vor Anker liegende einmastige Jacht. Ich sah, wie die Sonne tiefer Richtung Karibik sank. Das alles wirkte sehr idyllisch, doch ich wußte, daß auf der Plantage unsägliches Leid erduldet worden war; Hunderte afrikanischer Sklaven waren hier gestorben – mit vorgehaltener Waffe waren sie gezwungen worden, das prächtige Herrenhaus zu bauen, Zuckerrohr zu pflanzen und zu ernten und aus dem Rohzucker den Grundstoff für Rum herzustellen. Die Ruhe, die jetzt hier herrschte, täuschte über die Brutalität der Vergangenheit hinweg, genauso wie sie nichts über die Wut verriet, die in mir tobte. Die Sonne verschwand hinter einer bergigen Insel. Ein riesiger rosaroter Bogen spannte sich über den Himmel. Das Meer begann sich dunkler zu färben, und ich mußte der schockierenden Tatsache ins Auge blicken, daß ich ein Sklavenhalter war. Bei meiner Arbeit für MAIN war es nicht nur darum gegangen, arme Länder mit Hilfe von Schulden dem globalen Imperium einzuverleiben. Mit meinen übertriebenen Prognosen stellte ich nicht nur sicher, daß mein Land seinen Anteil fordern konnte, wenn wir Öl brauchten. Bei meiner Position als Partner ging es nicht nur darum, die Gewinne der Firma zu erhöhen. Nein, bei meiner Arbeit ging es auch um Menschen und Familien, Menschen, die mit jenen verwandt waren, die beim Bau jener Mauer gestorben waren, auf der ich gerade saß, Menschen, die ich ausgebeutet hatte.


Zehn Jahre lang war ich der Erbe der Sklavenhalter gewesen, die in den afrikanischen Urwald eingedrungen waren und Männer und Frauen zu den wartenden Schiffen verschleppt hatten. Mein Ansatz war moderner und subtiler – ich mußte mir nie Sterbende ansehen, das verfaulende Fleisch riechen oder die gequälten Schreie hören. Aber mein Verhalten war genauso unmenschlich, und weil ich mich davon distanzieren konnte und die persönliche Seite nicht wahrhaben wollte, die Körper, das Fleisch und die Schreie, versündigte ich mich letztendlich vielleicht sogar noch mehr. Ich sah wieder zur Jacht. Die Flut zerrte an der Ankerkette. Mary entspannte sich an Deck, trank wahrscheinlich eine Margarita und wartete darauf, mir auch eine zu reichen. Als ich sie so im letzten Licht des Tages sah, so entspannt, so vertrauensvoll, traf mich die Erkenntnis, was ich ihr und all den anderen antat, die für mich arbeiteten, die ich zu EHM machte. Ich tat das, was Claudine mit mir gemacht hatte, aber ohne Claudines
Ehrlichkeit. Ich verführte sie mit Gehaltserhöhungen und Beförderungen, damit auch sie Sklavenhalter wurden. Aber wie ich waren auch sie an das System gekettet. Auch sie waren Sklaven.


Ich wandte mich ab vom Meer, der Bucht und dem rosafarbenen Himmel. Ich verschloß die Augen vor den Mauern. Ich versuchte, das alles zu verdrängen. Als ich die Augen wieder öffnete, starrte ich auf einen großen knorrigen Ast, so dick wie ein Baseballschläger und doppelt so lang. Ich sprang auf, ergriff den Ast und schlug damit gegen die Steinmauern. Ich schlug so lange auf die Mauern ein, bis ich nicht mehr konnte. Danach lag ich im Gras und sah den ziehenden Wolken über mir zu. Schließlich ging ich zurück zum Beiboot. Ich stand am Strand und blickte zu unserem Segelboot im azurblauen Wasser. Mit einem Mal wußte ich, was zu tun war. Ich wußte, wenn ich zu meinem früheren Leben, zu meiner Arbeit für MAIN und allem, wofür sie stand, zurückkehrte, war ich für immer verloren. Die Gehaltserhöhungen, die Pension, die Versicherungen und Vergünstigungen, die Aktien … Je länger ich blieb, desto schwieriger wurde der Ausstieg. Ich war ein Sklave geworden. Ich konnte auf mich einprügeln, wie ich es vorher bei der Steinmauer getan hatte, oder ich konnte fliehen.

 

Zwei Tage später kehrte ich nach Boston zurück. Am 1. April 1980 marschierte ich in Paul Priddys Büro und kündigte.