3. Kapitel: Die Belebung des internationalen Warenhandels 1911: Die Juden und das Wirtschaftsleben von Werner Sombart: Erster Abschnitt - Der Anteil der Juden am Aufbau der modernen Volkswirtschaft.

Mächtig ist der Anteil, den die Juden an der Neugestaltung des Handels genommen haben, wie sie sich seit der Verschiebung des Wirtschaftsgebietes vollzieht. Mächtig zunächst durch die offenbar rein quantitativ hervorragende Beteiligung an den bewirkten Warenumsätzen. Nach dem, was ich eingangs dieses Abschnitts ausgeführt habe, ist eine ziffermäßige Erfassung der auf die Juden entfallenden Quote der bewegten Warenmenge unmöglich, wo nicht ganz besonders günstige Umstände einen Einblick gewähren. Vielleicht daß eingehende Forschungen noch eine Reihe von genauen Ziffern zutage fördern. Einstweilen sind (mir) nur wenige bekannt, die aber immerhin (gleichsam paradigmatisch) recht lehrreich sind.

So soll sich der Umfang des Handels der Juden, schon vor ihrer Zulassung, also in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, auf ein Zwölftel des gesamten englischen Handels belaufen haben (33). Leider erfahren wir nicht, welcher Quelle diese Ziffer entnommen ist. Daß sie aber nicht allzuweit von der Wirklichkeit sich entfernt, beweist eine Angabe, die wir in einer Denkschrift der Londoner Kaufleute finden. Es handelte sich darum, ob die Juden den Fremdenzoll auf Einfuhrgüter zahlen sollten oder nicht. Die Denkschreiber meinen, wenn er aufgehoben würde, würde die Krone einen Verlust von jährlich mindestens 10 000 £ erleiden (34).

Auffallend gut sind wir unterrichtet über die Beteiligung der Juden an der Leipziger Messe (35), die ja lange Zeit hindurch der Mittelpunkt des deutschen Handels war und für dessen intensive und extensive Entwicklung einen guten Gradmesser bildet, die aber auch für einige der angrenzenden Länder, namentlich Polen und Böhmen, eine wichtige Rolle gespielt hat. Hier auf der Leipziger Messe finden wir nun seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in wachsendem Umfange Juden als Meßfieranten , und die Bearbeiter des Ziffermaterials kommen sämtlich dahin überein, daß die Juden es seien, die den Glanz der Leipziger Messe begründet haben (36).

Leider ist eine Vergleichung der Zahl der Juden mit der der christlichen Kaufleute erst seit der Ostermesse 1756 möglich, da die archivarischen Quellen erst von diesem Zeitpunkt an statistische Angaben über die Christen auf den Messen enthalten. Die Zahl der Juden auf der Oster- und Michaelismesse betrug durchschnittlich im Jahr

1675-1680 416  1767-1769 995
1681-1690 489  1770-1779 1652
1691-1700 894  1780–1789 1073
1701-1710 854  1790-1799 1473
1711-1720 769  1800-1809 3370
1721-1730 899  1810-1819 4896
1731-1740 874  1820-1829 3747
1741-1748 708  1830-1839 6444

  
Beachtenswert: das rasche Anwachsen Ende des 17. und 18. sowie Anfang des 19. Jahrhunderts!

Überblicken wir den ganzen Zeitraum von 1766-1899, so zeigt sich, daß die Messen durchschnittlich im Jahre von 3185 jüdischen Meßfieranten besucht waren, denen 13005 Christen gegenüberstehen: die Zahl betrug demnach 24,49 % oder fast ein Viertel von der der christlichen Kaufleute. In einzelnen Jahren, wie z. B. zwischen 1810 und 1820 steigt das Verhältnis der Juden zu den Christen bis auf 33 1/3 % (4896 Juden, 14366 Christen!) (Dabei ist noch zu beachten, daß alle diese Ziffern wahrscheinlich erheblich hinter der Wirklichkeit zurückbleiben, da neuere, genauere Untersuchungen noch viel mehr Juden auf den Messen festgestellt haben : siehe die Anmerkung (35).

Zuweilen kann man auf Umwegen den ziffernmäßig großen Anteil der Juden an dem Gesamthandel eines Landes oder einer Stadt ermitteln. So wissen wir beispielsweise, daß der Handel Hamburgs mit Spanien und Portugal sowohl als mit Holland während des 17. Jahrhunderts fast ausschliefilich in den Händen der Juden lag (37). Nun fuhren aber in jener Zeit rund 20 % der von Hamburg auslaufenden Schiffslasten nach Spanien und Portugal, etwa 30 % nach Holland (38).

Oder wir erfahren, dah der Levantehandel der bedeutsamste Zweig des französischen Handels im 18. Jahrhundert ist : ,,peut etre la plus brillante (branche) du commerce de France“ und hören gleichzeitig, daß er ganz und gar von den Juden beherrscht wird: ,Käufer, Verkäufer, Makler, Wechselagenten, Kommissionäre usw., alles sind Juden“  (39).

Ganz allgemein aber genügt die Erwägung, daß während des 16. und 17. Jahrhunderts bis tief ins 18. hinein der Levantehandel und der Handel mit und über Spanien-Portugal noch die bei weitem wichtigsten Zweige des Welthandels bildeten, um die überragende Bedeutung der Juden für dessen Entwicklung zunächst in rein quantitativer Betrachtung zu ermessen. Denn diese Handelswege beherrschten sie fast ausschliefilich. Schon von Spanien aus hatten sie den größten Teil des Levantehandels in die Hände bekommen ; schon damals hatten sie überall in den levantinischen Seeplätzen Kontore. Nun, bei der Vertreibung aus der Pyrensenhalbinsel ging ein großer Teil der Spaniolen selbst in den Orient; ein anderer Teil zog nordwärts und somit glitt ganz unmerklich der Orienthandel zu den nordischen Völkern hinüber. Speziell Holland wird durch die Knüpfung dieser Beziehungen erst eine Welthandelsmacht. Das Netz des Welthandels wurde größer und engmaschiger genau in dem Maße, wie die Juden ihre Kontore an entferntere und in näher beieinander liegende Orte verlegten (40). Zumal dann, als – wiederum im Wesentlichen durch sie – der Westen der Erde in den Welthandel einbezogen wurde. Diese Etappe der Entwicklung verfolgen wir aber erst, wenn wir den Anteil an der Begündung der modernen Kolonialwirtschaft festzustellen versuchen.

Abermals ein Weg, auf dem man zur Einsicht in die Bedeutung der Juden für die Ausbildung des modernen Welthandels kommt, ist die Feststellung derjenigen Warengattungen, mit denen sie hauptsächlich handelten. Durch die Artbeschaffenenheit ihres Handels fast noch mehr als durch dessen Umfang gewinnen sie so großen Einfluß auf die Gesamtgestaltung des Wirtschaftslebens, wirken sie teilweise revolutionierend auf die alten Lebensformen ein.

Da tritt uns zun&chst die wichtige Tatsache entgegen, daß die Juden den Handel mit Luxuswaren lange Zeit hindurch so gut wie monopolisiert haben. Und während des aristokratischen 17. und 18. Jahrhunderts bedeutete dieser Handel das meiste. Die Luxusgegensthde, aber die die Juden vor allem verfiigten,  sind Bijouterien, Edelsteine, Perlen, Seide und Seidenwaren „(41).  Bijouterien aus Gold und Silber, weil sie von jeher den Edelmetallmarkt beherrscht hatten; Edelsteine und Perlen, weil sie die Fundstätten (namentlich Brasilien) als die ersten besetzt hatten ; Seide und Seidenwaren wegen ihrer uralten Beziehungen zu den östlichen Handelsgebieten.

Auf der anderen Seite finden wir die Juden überall dort allein oder mit überragendem Einfluß am Handel beteiligt, wo es den Vertrieb von Massenprodukten gilt. Ja, man kann, glaube ich, mit einigem Recht behaupten, daß sie es wiederum sind, die als die ersten die groben Stapelartikel des modernen Welthandels zu Markte gebracht haben. Das sind aber neben einigen Landesprodukten : Getreide, Wolle, Flachs, später Spiritus, wähend des 17. und 18. Jahrhunderts vornehmlich die Erzeugnisse der rasch wachsenden kapitalistischen Textilindustrie sowie die neu auf dem Weltmarkte erscheinenden Kolonialprodukte Zucker und Tabak. Ich zweifle nicht, daß, wenn man einmal anfangen wird, die Handelsgeschichte der neueren Zeit zu schreiben, man gerade bei der Geschichte der Massenartikel immerfort auf jüdische Händler stoßen wird. Die wenigen Belege, die mir rein zufällig in die Hände gekommen sind, lassen schon jetzt die Richtigkeit meiner Behauptung durchscheinen (43).

Stark aufreizend und umstürzend wirkte auf den Gang des Wirtschaftslebens dann aber vor allem der Handel mit neuen, alte Verfahrungsweisen umwälzenden , Artikeln ein, an dem wiederum die Juden offenbar einen besonders starken Anteil hatten. Ich denke an den Handel mit Baumwolle (44), ausländischen Baumwollwaren (Kattunen), Indigo usw. (45). Die Vorliebe fiir solche Artikel, die man nach damaliger Denkweise als Störenfriede der heimischen „Nahrung“ empfand, trug dem Handel der Juden wohl gelegentlich den Vorwurf des „unpatriotischen Handels“ ein, des „Judenkommerz , welches wenige deutsche Hände nützlich beschäftigt und größtenteils auf der inländischen Verzehrung beruht“ (47).

Was das ,,Judenkommerz“ sonst noch auszeichnete und es vorbildlich für den Handel machte, der dadurch in neue Bahnen gelenkt wurde, war die Mannigfaltigkeit und Reichhaltigkeit der gehandelten Waren. Als sich die Kaufleute von Montpellier über die Konkurrenz beschweren, die ihnen die jüdischen Händler bereiteten, antwortete ihnen der Intendant (1740): wenn sie, die Christen, ebenso wohlassortierte Läger hätten wie die Juden, würde die Kundschaft schon ebenso gern zu ihnen kommen wie zu den jüdischen Konkurrenten (48). Und von der Tatigkeit der Juden auf den Leipziger Messen entwirft uns Rich, Markgraf  in seinem Schlußwort folgende Schilderung (49):

„Fürs zweite wirkten sie (die jüdischen Fieranten) fördernd auf die Meßgeschäfte durch die Mannigfaltigkeit ihrer Einkäufe, insofern sie dadurch den Meßhandel immer vielseitiger gestalteten und die Industrie, besonders die inländische, zu immer größerer Mannigfaltigkeit in der Produktion anspornten. Auf vielen Messen waren die Juden wegen ihrer verschiedenen und umfangreichen Einkäufe sogar ausschlaggebend.“

Worin ich aber vor dem die Bedeutung sehe, die das „Judenkommerz“ während der frühkapitalistischen Epoche für die meisten Volkswirtschaften gewann, ist der Umstand, daß die Juden gerade diejenigen Handelsgebiete fast ausschließlich beherrschten, aus denen große Mengen Bargeld zu holen waren: also die neu-erschlossenen Silber- und Goldländer (Mittel- und Sildamerika), sei es im direkten Verkehr, sei es auf dem Umwege über Spanien und Portugal. Oft genug hören wir denn auch berichten, daß die Juden bares Geld ins Land hineinbringen (50). Und daß hier die Quelle aller (kapitalistischen) „Volkswohlfahrt“ floß, wußten die Theoretiker und Praktiker ihrer Zeit sehr genau, und haben wir, nachdem der Nebel der Smithschen Doktrinen gesunken ist, jetzt endlich auch wieder eingesehen. 

Begründung der modernen Volkswirtschaft hieß zu einem guten Teile Herbeiziehung von Edelmetallen, und daran war niemand so sehr beteiligt als die jüdischen Kaufleute. Diese Feststellung aber führt uns unmittelbar hinüber zu dem nächsten Kapitel, das insbesondere den Anteil der Juden an der Entwicklung der modernen Kolonialwirtschaft erörtern soll.