Wws-T1: Abwehr im Dienste der Autonomie: Abwerten und Rationalisieren Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Abwehr im Dienste der Autonomie: Abwerten und Rationalisieren
Befürchten wir einen Bindungsverlust, so hilft uns das Schönreden und Idealisieren, um diesen Verlust beziehungsweise die nötige Trennung abzuwehren. Aber nicht nur der Verlust von Nähe und Bindung kann für uns bedrohlich sein, sondern auch das Gegenteil: Manchen Menschen macht Nähe Angst. Für sie erscheint das Einhalten einer gewissen Distanz zu anderen Menschen als vermeintlich sichere Option. Sie haben beispielsweise als Kinder erfahren, dass sie sich nicht wirklich auf ihre Eltern verlassen konnten, und deswegen unbewusst beschlossen, sich am besten nur auf sich selbst zu verlassen. Anstatt also andere Menschen beziehungsweise ihre potenziellen Liebespartner idealisiert wahrzunehmen, wie die Verlustängstlichen es tun, nehmen die »Autonomen« eine kritische Distanz ein. Das führt nicht selten dazu, dass sie in einen gewissen Schwächenzoom verfallen. Dies geschieht normalerweise unbewusst und automatisch, wenn eine Beziehung zu eng zu werden droht. Der Autonome fokussiert in diesem Stadium der Beziehung vorwiegend auf die Schwächen seines Partners, was zwangsläufig dazu führt, dass seine Liebesgefühle erkalten. Hierdurch kann er die emotionale Distanz zu seinem Partner herstellen, die er benötigt, um sich sicher zu fühlen und Kontrolle über die Situation zu erlangen.
Eine überaus kritische und abwertende Haltung gegenüber anderen Menschen ist eine negative Wahrnehmungsverzerrung, die nicht nur dem Kontrollbedürfnis, sondern auch dem Selbstwertgefühl dient. Nicht wenige Menschen verwalten ihr lädiertes Selbstwertgefühl, indem sie vorwiegend auf die vermeintlichen Schwächen anderer fokussieren. Wer auf andere herabschaut, ist automatisch in einer etwas überlegenen Position. Durch diesen Rangunterschied verliert der andere sein potenzielles Gefährdungspotenzial. Zur Erinnerung: Menschen, deren Selbstwert gering ist, nehmen andere schnell als überlegen und bedrohlich wahr. Durch die Abwertung ihres Gegenübers wird diese Gefahr abgewendet.
Menschen mit narzisstischen Strukturen bedienen sich besonders gern der Abwertung als psychischem Abwehrmechanismus. Entgegen der landläufigen Annahme, dass Narzissten über ein überhöhtes Selbstwertgefühl verfügen, verbirgt sich hinter ihrem scheinbar grandiosen Auftreten ein geringes Selbstwertgefühl. Um dieses in Schach zu halten, arbeitet der Narzisst an zwei Fronten: Zum einen bemüht er sich, mit seinen Fähigkeiten zu brillieren, was häufig auch sein Aussehen einschließt, und zum anderen wertet er andere Menschen ab.
Exkurs: Was steckt eigentlich hinter dem Begriff »Narzissmus«?
Derzeit wird von Laien (und Medien) schnell eine narzisstische Störung vermutet, vor allem wenn es um Paarprobleme und Trennungen geht. Tatsächlich führt eine narzisstische Störung zu massiven Beziehungsproblemen, aber sie tritt als psychologisches Störungsbild seltener auf, als man derzeit glauben könnte.
Der Name »Narzissmus« kommt ursprünglich aus der griechischen Mythologie: Laut der Sage hat der schöne Jüngling Narziss sich unsterblich in sich selbst verliebt, als er sein Spiegelbild in einem Wasser sah. Den Rest seines Lebens vergötterte er sich selbst. Ein Narzisst ist im allgemeinen Sprachgebrauch also ein Mensch, der sich in selbstverliebter Manier als großartig und bedeutend wahrnimmt. In der Psychologie versteht man unter Narzissmus eine Selbstschutzstrategie, mit deren Hilfe die Betroffenen ihr Schattenkind beschützen. Sie demonstrieren ihre eigene Größe und Unfehlbarkeit, um ihr verletztes Selbstwertgefühl nicht spüren zu müssen.
Zur Entstehung von Narzissmus gibt es unterschiedliche Theorien. Die eine besagt, dass das selbstverliebte Verhalten entsteht, um in der Kindheit erlittene Kränkungen zu kompensieren. Die andere Theorie geht davon aus, dass erwachsene Narzissten als Kinder übermäßig behütet und verwöhnt wurden und so kein realistisches Selbstbild entwickeln konnten. Ob die Prägung durch die Eltern bei diesem Persönlichkeitsmerkmal überhaupt eine besondere Rolle spielt, wird ebenfalls diskutiert: Inzwischen weiß man, dass Narzissmus eine hohe genetische Komponente aufweist und stark mit unserem angeborenen Temperament korrespondiert.
In einem gewissen Ausmaß benutzen wir alle narzisstische Schutzstrategien: Wir alle wollen möglichst gut dastehen – vor anderen und vor uns selbst. Die meisten Menschen geben dann und wann mal ein bisschen an. Die meisten lästern auch mal über andere und werten sich dadurch auf. Das ist vielleicht kein besonders sympathischer Charakterzug, aber so weit ganz normal. Wir alle versuchen, unser Schattenkind möglichst nicht zu spüren und unsere Schwächen zu verstecken. Entsprechend reagieren wir gekränkt auf Zurückweisung und Kritik.
Unabhängig davon, ob im Einzelfall genetische Faktoren oder prägende Kindheitserfahrungen die größere Rolle spielen: Narzisstische Persönlichkeiten haben übergroße Ängste vor Zurückweisung, Kritik und Beschämung. Sie konstruieren sich ein Idealselbst, indem sie alles dafür tun, sich vom Durchschnitt abzuheben. Narzissten strengen sich unglaublich an, etwas Besonderes zu sein, weil ihr Schattenkind genau das Gegenteil empfindet. Um ihr Schattenkind in Schach zu halten, streben sie nach außerordentlichen Leistungen, nach Macht, Schönheit, Erfolg und Anerkennung. Narzissmus besteht somit aus einem ganzen Bündel von Schutzstrategien.
Zu diesen Schutzstrategien gehört leider auch die Abwertung anderer Menschen. Narzissten haben ein ausgeprägtes Gespür für die Schwächen ihres Gegenübers, die sie gern in Form von scharfer, verletzender Kritik verbalisieren. Narzissten können ihre eigenen Schwächen nicht ertragen und ertragen sie deswegen auch nicht bei ihren Mitmenschen. Indem sie aber auf deren Schwächen fokussieren, sind sie von den eigenen Schwächen abgelenkt. Dadurch lösen sie bei ihren Mitmenschen genau jene Gefühle aus, die sie selbst nicht spüren wollen: eine tiefe Verunsicherung und Minderwertigkeit. Bei Narzissten tritt das Prinzip der Täter-Opfer-Perversion besonders deutlich zutage. Gegen den Schwächen-Zoom des Narzissten hat kein Partner eine Chance. Die abhängigen Partner meinen jedoch leider oftmals, wenn sie nur irgendwie besser und schöner wären, dann wäre der Narzisst auch zufrieden mit ihnen. Das suggeriert der narzisstische Partner auch. Manche Narzissten wählen nämlich eine Zeit lang die gegenteilige Strategie zum Abwertungsmuster: Sie idealisieren ihre Partner oder nahestehende Menschen, um sich selbst dadurch aufzuwerten. In diesem Fall geben sie beispielsweise mit ihrem tollen Partner, ihren grandiosen Kindern und ihren wichtigen Freunden an. Viele Narzissten verwenden auch beide Strategien: Sie switchen zwischen Idealisierung und Abwertung. Nicht selten wird eine neue Bekanntschaft oder Liebe zunächst idealisiert, dann abgewertet und fallen gelassen.
Die Beziehung mit einem narzisstischen Partner ist häufig zum Scheitern verurteilt. Das liegt daran, dass es narzisstischen Typen naturgemäß schwerfällt, ihre eigene Struktur zu erkennen. Wenn ihnen dies jedoch gelingt, können sie den Ausstieg aus ihrem destruktiven Muster finden. Kurz: Wenn es ihnen gelingt, sich mit ihren eigenen Schwächen anzunehmen, dann benötigen sie nicht mehr die ständige Bestätigung im Außen und die Abwertung anderer.
Ein weiterer Abwehrmechanismus, um sich die eigenen Gefühle und somitauch jene des Partners vom Leib zu halten, ist die Rationalisierung. Menschen, die sich vorwiegend in ihrem Verstand aufhalten, haben einen schlechten Kontakt zu ihren Gefühlen. Sie verstricken sich gern in theoretische, intellektuelle Diskussionen, zum Beispiel über das Wesen der Liebe, ohne sich jedoch auf eine nahe Liebesbeziehung einzulassen. Sie wahren zu den Menschen eine kritische Distanz und lassen nichts wirklich nah an sich herankommen. Wie ich bereits unter dem Abschnitt »Motivation und Gene« geschrieben habe, haben auch unsere Gene einen starken Einfluss auf unsere Wesensart; die Neigung zur Rationalisierung ist also nicht allein auf Kindheitseinflüsse zurückzuführen. Gleichwohl wird sie natürlich begünstigt, wenn die Betroffenen, neben ihrem angeborenen Naturell, als Kinder in ihrem Nähebedürfnis verletzt worden sind, so dass sie sich umso stärker auf der autonomen Seite der »Unverletzbarkeit« verankert haben. Die Rationalisierung ebenso wie die Abwertung verfolgen den unbewussten Zweck, andere Menschen nicht zu nah an sich heranzulassen.
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