Wws-T3: Schlusswort: Werde ein Teil der Gemeinschaft Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Schlusswort: Werde ein Teil der Gemeinschaft
Wenn ein Mensch oder vielmehr sein Schattenkind der Überzeugung ist, dass die anderen Menschen eine potenzielle Bedrohung seiner psychischen oder gar physischen Existenz darstellen, dann lebt dieser Mensch wie in der angespannten Atmosphäre eines Computerspiels: Die eigene Figur gerät von einer Situation in die nächste, in der sie sich im Kampf gegen die bösen Mächte behaupten muss. Das Stresslevel bleibt also konstant hoch. In gewisser Weise programmieren wir tatsächlich unser Dasein: Man kann sich der Tatsache nicht genügend bewusst sein, dass unsere Realität von der Programmierung unseres Gehirns abhängt, das eingeschlossen im Dunkeln unserer Schädeldecke liegt und nur durch unsere unzulänglichen Sinneskanäle mit der äußeren Welt verbunden ist. In unserer Kopfkino-Vorstellung des Lebens sind wir die Protagonisten unseres eigenen Films.
Vor unserem inneren Auge richten wir unsere Kamera auf uns selbst, filmen und beurteilen unsere Performance und sozialen Überlebenschancen. Was wir, trotz Nachrichtenflut und Bildern aus der ganzen Welt, jedoch häufig vergessen – beziehungsweise nicht fühlen –, ist, dass wir nicht der Mittelpunkt der Welt sind, sondern noch circa acht Milliarden weitere Menschen mit ihren Schicksalen existieren, die oftmals wesentlich härter sind als unser eigenes – von den Tieren und anderen Lebewesen ganz zu schweigen.
Die Illusion, von allem getrennt zu sein, ist nötig, damit wir als Individuum autonom existieren und handeln können. Gleichzeitig schaft diese Getrenntheit leidvolle Gefühle von Einsamkeit und Sinnlosigkeit. Trost suchen wir immer zunächst bei anderen Menschen. Aber auch in der meditativen Imagination können wir uns mit dem Leben verbinden.
Vielleicht möchten Sie mal für einen Moment die Augen schließen und sich vorstellen und es wirklich auch fühlen, dass Sie Teil des Ganzen sind. Ein Teil einer ganz großen Gemeinschaft von Menschen, Tieren, Flüssen, Meeren, Bergen und Tälern – eben allem, was lebt, und allem, was dazugehört. Öffnen Sie sich einmal für diesen Moment und verbinden sich innerlich mit dem Leben selbst. Visualisieren Sie, wie Sie mit allem verbunden sind, ein Teil des Ganzen und gleichzeitig einmalig.
Wir haben einen starken Bindungswunsch in die Wiege gelegt bekommen. Wir wollen dazugehören und uns gut dabei fühlen. Wer nirgendwo dazugehört, fühlt sich furchtbar einsam. Unser Zugehörigkeitswunsch richtet sich normalerweise auf unsere nächsten Zielgruppen aus: unsere Familie, den Freundeskreis, die Firma, die Schule oder den Freizeitverein. Wir sind sehr unglücklich, wenn wir uns in einer dieser Bindungsgemeinschaften nicht verstanden oder gar ausgeschlossen fühlen.
Häufig bleiben wir dann wie der Fisch im Wasserglas in diesem Bezugsrahmen hängen und kämpfen darum, den Anschluss wiederzufinden. Fühlen wir uns auf unserem Arbeitsplatz unverstanden und gemobbt, verengen wir unseren Blick auf dieses Geschehen, anstatt ihn zu öffnen und über die Grenzen des Wasserglases hinauszuschauen. Außerhalb unseres direkten Umfelds gibt es aber noch eine Welt voller Möglichkeiten. Wenn meine Probleme am Arbeitsplatz nicht zu lösen sind, dann sollte ich mich nach einer anderen Stelle umsehen. Wenn ich mich von meiner Familie ungeliebt und falsch beurteilt fühle, dann könnte ich meinen Blick erweitern und mich Menschen anschließen, die mich verstehen und mögen. Wenn ich in einer Beziehung feststecke, die mich nur herunterzieht und unglücklich macht, dann sollte ich mich trennen und auf Bereiche in meinem Leben fokussieren, die innerhalb meiner eigenen Kontrolle liegen.
Zugegebenermaßen ist das nicht immer einfach, aber es ist das, was innerhalb meiner Macht, meiner Verantwortung liegt, um meine Situation zu verbessern. (Zuvor sollte ich natürlich die drei Positionen der Wahrnehmung bearbeitet haben, um festzustellen, welcher Anteil der schwierigen Situation innerhalb meines Verantwortungsbereiches liegt.
Dann könnte ich gegebenenfalls mein eigenes Verhalten oder auch meine Einstellung verändern und somit meine Situation am Arbeitsplatz, in meiner Familie oder innerhalb meiner Partnerschaft verbessern.) Unser Bindungswunsch und unser Selbstwertgefühl sind eng miteinander verbunden. Viele Menschen sind unglücklich, weil sie sich wertlos fühlen. Ihr Gefühl der Wertlosigkeit resultiert aus einem Mangel an Anerkennung in der äußeren Welt. Eine wichtige Frage ist, ob ich weiter passiv darauf hoffe, Anerkennung zu erhalten, oder ob ich selbst damit anfange, andere Menschen anzuerkennen. In dem Wort »Anerkennung« steckt das Wort »erkennen«. Es geht also darum, andere Menschen wahrzunehmen, sie zu sehen und Anteil an ihnen zu nehmen. Viele Menschen verspüren mehr Glück, wenn sie jemandem ein (materielles) Geschenk machen, als wenn sie selbst beschenkt werden. Dasselbe Prinzip kann man auf echte Anteilnahme übertragen.
Ein guter Weg aus dem Gefühl der Wertlosigkeit ist, sich in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. So schlägt es auch Alfred Adler vor, mit dessen Gedanken ich absolut konform bin. Ein Dienst an der Gemeinschaft kann ein Ehrenamt oder eine andere sinnvolle Tätigkeit sein. Adlers Empfehlung lautet, dass jeder seine Aufgaben in Sachen Liebe, Freundschaft und Arbeit erledigt (siehe dazu auch den Abschnitt »Vierter Schritt: sich aus der Verstrickung lösen und dem Leben Sinn verleihen«). Radikale Aufgabentrennung in diesem Sinne bedeutet, dass ich die volle Verantwortung für mein Tun übernehme und dem anderen die seinige überlasse. Durch die Übernahme von Verantwortung werde ich ein Teil der Gemeinschaft, indem ich mich wahrhaftig und authentisch einbringe. Das hat eine andere Qualität, als um der Anerkennung willen die Erwartungen der anderen zu erfüllen. Wenn ich nämlich Verantwortung übernehme, so beinhaltet dies auch, auf Missstände aufmerksam zu machen, Kritik zu üben, mich abzugrenzen. Wenn mich meine inneren Werte stützen, dann sind diese der Maßstab meines Handelns und nicht das mögliche Urteil anderer Menschen über mich.
Eine klare Meinung zu äußern, ist nicht immer einfach. Wie oft hat man sich schon seine Meinung verkniffen aus Angst vor Kontra und Ablehnung. Wie viele scheuen sich, Stellung auf sozialen Medien zu beziehen, weil sie einen gewaltigen Shitstorm fürchten? Viele halten sich deswegen bewusst mit politischen und wertebezogenen Posts zurück und überlassen hierdurch leider jenen die Bühne, die keine demokratischen Werte vertreten und wenig Bezug zu faktenbasiertem Wissen aufweisen. Wir sollten uns immer wieder verdeutlichen: Unsere Ängste vor Zurückweisung sind übertrieben.
Was können mir Gegner im Internet oder im Reallife tatsächlich anhaben? Gut, ich kann Follower und damit natürlich auch Geld verlieren. Diese Verluste sind aber banal und nichtig, wenn man an Länder denkt, in denen eine Diktatur herrscht, in denen Menschen eingesperrt und gefoltert werden, wenn sie sich für demokratische Grundrechte wie die Pressefreiheit engagieren. Man denke auch an die Zeiten der NS-Diktatur in Deutschland und frage sich: Was habe ich heutzutage wirklich zu befürchten?
Ich ermuntere meine Klientinnen und Klienten immer wieder zu einem ehrlichen Blick auf sich selbst. Ich ermuntere auch Sie, liebe Leser und Leserinnen, dazu! Hand aufs Herz: Wie ist es um Ihre Zivilcourage bestellt? Ertappen Sie sich öfter dabei, dass Sie Ihre Werte verraten aus Angst vor Zurückweisung und/oder persönlichen Repressionen? Welche innere Haltung, welcher Wert könnte Ihnen helfen, ihre Angst zu überwinden? Mehr Zugehörigkeit zu anderen und mehr Sicherheit im eigenen Leben erreichen wir auch durch Mitgefühl. Wenn ich meine Augen für das Leid der anderen öffne, dann tritt mein eigenes Leid automatisch in den Hintergrund. Noch einmal möchte ich hervorheben, dass es einen Unterschied macht, ob ich mich wirklich für meinen Nachbarn interessiere oder ob ich aus Ich-Angst bemüht bin, möglichst alle vermeintlichen Erwartungen zu erfüllen. Im ersteren Fall kann eine echte Anteilnahme entstehen. Im zweiten Fall ist meine Aufmerksamkeit im Wesentlichen auf den Eindruck gerichtet, den ich hinterlasse.
Alle Religionen beschäftigen sich mit dem Thema Nächstenliebe. Der Umgang mit Mitgefühl sollte unabhängig von religiöser Zugehörigkeit eine zentrale Rolle für uns alle spielen. Es gibt dazu unzählige Bücher, Hörbücher, Filme, Podcasts, Vorträge usw. Deswegen möchte ich nicht wiederholen, was andere bereits tiefsinnig und ausführlich formuliert haben. Ich möchte es mit meinen eigenen Worten und auf dem Hintergrund meiner eigenen Lebenserfahrung formulieren: Mitgefühl ist die tiefe, liebende Verbindung zum gesamten Leben und zu sich selbst. Es heilt die eigenen Wunden und ist der Schlüssel zur Heilung der Menschheit. Um diese Aussage zu veranschaulichen, möchte ich eine ehemalige Klientin von mir zu Wort kommen lassen, die mir sinngemäß Folgendes gesagt hat:
Ich bin es so leid, mir Gedanken über mich selbst und meine vermeintlichen Fehler zu machen. Ich habe inzwischen begriffen, dass mein Selbstwertgefühl total subjektiv ist und von meiner lieblosen Kindheit herrührt. Ich habe keine Lust, mein Leben in Angst zu verschwenden. Wenn ich mir vorstelle, wie viele Menschen da draußen rumlaufen und sich Sorgen um sich selbst machen, anstatt einfach zu leben – was für eine Verschwendung von Potenzial! Trotzdem habe ich lange nach einem Weg gesucht, mich aus meinen alten Mustern zu befreien, und da kam mir ein ganz banaler Film zu Hilfe. Es war eine rührselige Weihnachtsschnulze, in der ein Schutzengel die Hauptrolle spielt. Da hatte ich plötzlich eine Eingebung: Ich wäre gern ein Engel! Ich weiß, das klingt bescheuert, aber die Vorstellung hat mich total beseelt. Ein Engel zu werden ist doch im Grunde genommen total leicht. Wozu benötige ich Erfolg und Ruhm, wenn ich ein Engel bin? »An welchen Menschen nehme ich wirklich Anteil?«, habe ich mich gefragt. Herausgekommen sind eigentlich nur zwei: Ich selbst und der Typ, dem ich vergeblich hinterherlaufe. Das kann es doch nicht sein! Du kannst nicht immer nur um dich selbst kreisen und dabei auf der Stelle treten. Interessiere dich doch mal für andere, ich meine, so wirklich, mit echter Anteilnahme. Und dann habe ich damit angefangen.
Als Erstes habe ich mal bei meiner Nachbarin geklopft, eine alte Dame, die selten Besuch bekommt. Ich habe sie auf einen Kaffee eingeladen, und sie hat sich furchtbar gefreut. Wir hatten ein total schönes Gespräch, und wir treffen uns jetzt regelmäßig. Dann habe ich meinen Bruder angerufen und mich nach seinen Problemen mit seiner Freundin erkundigt. Wir haben lange gequatscht und waren uns so nah wie zuletzt als Kinder. Auch bei meiner Arbeit achte ich jetzt darauf, wie es meinen Kolleginnen und meiner Vorgesetzten geht. Ich mache das nicht, um mich beliebt zu machen, sondern aus Interesse und Mitgefühl. Ich frage einfach nach und höre zu. Auch im Supermarkt oder in der Fußgängerzone versuche ich, meine Aufmerksamkeit im Außen zu halten, anstatt in meine selbstbezogenen Gedanken zu versinken. Wenn ich sehe, da benötigt jemand vielleicht meine Hilfe, dann spreche ich ihn an. Ich bin immer wieder berührt, wie dankbar viele Menschen sind, wenn man sie wahrnimmt, sich ihnen zuwendet. Diese Aufmerksamkeit und das Mitgefühl für andere inspirieren und erfüllen mich – viel mehr als die ständige Sorge um mich selbst. Mein Leben fühlt sich erfüllter an, ich fühle mich psychisch stabiler und tatsächlich auch viel wohler in meiner Haut. Ich glaube, es reicht einfach nur, Mensch zu sein, mehr braucht es gar nicht im Leben. Das Leben an sich ist schon ein Geschenk, es reicht, es zu beschützen.
Liebe Leserinnen und Leser, besser als diese Klientin hätte ich ein gutes Lebensgefühl schwerlich beschreiben können. Was bleibt noch zu sagen? Ich hoffe, mein Buch hat Ihnen geholfen, sich selbst und Ihre Mitmenschen noch etwas besser zu verstehen. Meiner Meinung nach lohnt es sich immer, sich selbst zu reflektieren, und zwar nicht nur, um das eine oder andere Problem für sich zu lösen, sondern auch, um ein besserer Mensch zu werden. Je bewusster ich mir meiner inneren Vorgänge bin, desto weniger laufe ich Gefahr, meine psychischen Probleme an meinen Mitmenschen abzuarbeiten, und umso weniger bin ich geneigt, aus Angst vor Unterlegenheit passiv oder aktiv aggressiv gegen andere Menschen vorzugehen.
Es freut mich daher, dass sich die gesellschaftliche Haltung gegenüber psychologischen Themen zusehends ändert und öffnet. In älteren Generationen hat man sich zumeist nur mit seiner Psyche beschäftigt, wenn man erheblichen Leidensdruck verspürte – und oft noch nicht einmal dann. Heute fangen viele junge Menschen schon recht früh damit an, sich für psychologische Fragen zu interessieren. Und das finde ich gut so! Das Interesse für sich selbst bedeutet nämlich mitnichten, dass man in selbstmitleidiger Manier um sich selbst kreist, sondern, dass man die Verantwortung für sein Handeln übernimmt und damit einen Beitrag für die Gesellschaft leistet.
Ich wage zu behaupten, dass fast alle Probleme, die wir in dieser Welt haben – wie soziale Ungerechtigkeit, Rassismus, Sexismus, Gewalt, Kriege, die Klimakatastrophe –, auf einen Mangel an Selbstreflexion der Verantwortlichen zurückzuführen sind. Es mangelt der Welt an Weisheit, die in enger Verbindung zur Selbstreflexion steht. Der weise Mensch handelt im Sinne der Gemeinschaft. Der weise Mensch lebt Werte wie Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Toleranz, Mitgefühl, Großzügigkeit und Frieden. Es ist auch deshalb so wichtig, sich selbst zu verstehen, weil darin der Schlüssel zum Verständnis der Mitmenschen liegt. Je besser ich in Verbindung mit mir und meinen Gefühlen bin, desto leichter fällt es mir, mich mit anderen Menschen zu verbinden und mitzufühlen. Wer Mitgefühl mit Menschen und anderen Lebewesen praktiziert, ist dem Leben zugewandt und friedlich.
Das wäre zumindest der gewünschte Idealzustand, das Ziel, die Vision. Aber auch einem selbstreflektierten Menschen gelingt es nicht immer, sich selbst zu mögen und anderen Menschen mit Wohlwollen zu begegnen. Wir alle haben unsere kleinen Launen, schlechten Tage oder auch körperliche Schmerzen, die es uns schwer machen, derjenige zu sein, der wir eigentlich gern wären. Und dann gibt es da ja auch noch die äußeren Umstände – schließlich liegt längst nicht alles allein in unserer Hand. Wir müssen uns täglich in einer Welt zurecht finden, die das Ergebnis des menschlichen Defizits an Selbstreflexion ist. Da gibt es Leute, die sich um zentrale menschliche und gesellschaftliche Themen keinen Deut scheren, die brutal und rücksichtslos sind. Auch Geldsorgen, Gesundheitsprobleme, Mobbing, eine zu hohe Arbeitsbelastung und diverse andere Bürden, die nicht allein innerhalb unserer Kontrolle liegen, können uns das Leben schwer machen.
Je mehr ich aber leide, desto weniger Ressourcen verbleiben mir, eine gute Nachbarin, ein guter Vater, eine gute Vorgesetzte oder ein guter Freund zu sein.
Was wäre unter den gegebenen Umständen ein schönes und realistisches Ziel? Es jeden Tag ein bisschen besser zu machen. Diese Haltung bezeichnen die Japaner als Kaizen. »Kai« steht für »Veränderung« und »Zen« heißt »zum Besseren«. Diese Methode stammt zwar aus der japanischen Arbeitswelt, aber ich finde sie sehr geeignet als guten Vorsatz für das alltägliche Leben. Mir gefällt der Gedanke, es jeden Tag ein bisschen besser zu machen. Falls Ihnen der Gedanke auch gefällt, könnten Sie sich vornehmen …
… jeden Tag Ihr Schattenkind noch ein bisschen besser im Auge zu behalten.
… jeden Tag ein wenig dankbarer zu sein für das, was in Ihrem Leben an Fülle bereits vorhanden ist.
… jeden Tag Ihr Leben noch ein wenig mehr zu genießen.
… Jeden Tag noch etwas freundlicher mit sich selbst und Ihren Mitmenschen umzugehen.
Wer wir sind, hängt maßgeblich davon ab, wer wir uns entscheiden zu sein.
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