15 Das Saudi-Arabische Geldwäscheprojekt

Ein Diplomat aus Saudi-Arabien zeigte mir 1974 Fotos von Riad, der Hauptstadt seines Landes. Darunter war auch ein Bild, auf dem eine Herde von Ziegen zu sehen war. Die Tiere wühlten vor einem Regierungsgebäude zwischen Müllhaufen herum. Als ich den Diplomaten fragte, was die Ziegen hier zu suchen hätten, erhielt ich eine Antwort, die mich schockierte. Er erklärte mir, diese Ziegen seien das wichtigste Müllentsorgungssystem der Stadt. »Es wäre unter der Würde eines Saudi, Müll einzusammeln«, sagte er. »Das überlassen wir den Tieren.« Ziegen! In der Hauptstadt des größten Öllandes der Welt. Ich konnte es kaum fassen. Damals gehörte ich einer Gruppe von Consultants an, die eine Lösungsmöglichkeit für die Ölkrise zu finden versuchten. Diese Ziegen brachten mich auf die Idee, wie eine solche Lösung aussehen könnte, vor allem wenn man das Entwicklungsmster des Landes
in den vergangenen drei Jahrhunderten berücksichtigte.


Die Geschichte Saudi-Arabiens ist gekennzeichnet von Gewalt und religiösem Fanatismus. Im 18. Jahrhundert verbündete sich Mohammed ibn Saud, ein lokaler Kriegsfürst, mit den Fundamentalisten der ultrakonservativen Sekte der Wahhabiten. Diese Allianz sollte sich als sehr mächtig erweisen, und im Laufe der folgenden zwei Jahrhunderte unterwarf die Familie Saud mit ihren wahhabitischen Bundesgenossen den größten Teil der arabischen Halbinsel und eroberte auch Mekka und Medina, die beiden heiligsten Stätten des Islam.


Die saudische Gesellschaft wurde geprägt durch den puritanischen Idealismus ihrer Gründer, die eine rigide Auslegung des Korans durchsetzten. Die Religionspolizei sorgte dafür, daß die fünf Gebetszeiten am Tag eingehalten wurden. Frauen mußten sich von Kopf bis Fuß verschleiern. Kriminelle wurden sehr hart bestraft; öffentliche Hinrichtungen und Steinigungen waren an der Tagesordnung. Bei meinem ersten Besuch in
Riad war ich verblüfft, als mir mein Fahrer erklärte, daß ich meinen Fotoapparat, meinen Aktenkoffer und sogar meine Brieftasche offen im Wagen liegen lassen könne, den er unabgesperrt in der Nähe eines Marktes parkte. »Niemand wird auf die Idee kommen, etwas zu stehlen«, sagte er. »Dieben wird hier die Hand abgehackt.« Im weiteren Verlauf dieses Tages fragte er mich, ob ich Lust hätte, zum sogenannten Chop Chop Square zu fahren und mir eine öffentliche Enthauptung anzusehen. Aufgrund des rigiden Regiments der Wahhabiten waren die Straßen sicher vor Dieben – und Gesetzesbrecher erwarteten die grausamsten körperlichen Strafen. Ich lehnte das
Angebot ab.


Die Auffassung der Saudis, daß die Religion ein wichtiger Bestandteil der Politik und der Wirtschaft ist, trug zur Verhängung des Ölembargos bei, das die westliche Welt erschütterte. Am 6. Oktober 1973 (an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag) griffen Ägypten und Syrien gleichzeitig Israel an. Dies war der Beginn des vierten und erbittertsten arabisch-israelischen Krieges. Der ägyptische Staatspräsident Sadat drängte den saudischen König Faisal dazu, gegen die Vereinigten Staaten von Amerika wegen ihrer engen Zusammenarbeit mit Israel die »Ölwaffe« einzusetzen, wie er es nannte. Am 16. Oktober verkündeten der Iran und fünf arabische Golfstaaten einschließlich Saudi-Arabiens, daß sie den Ölpreis um 70% erhöhen würden. Auf einem Treffen in Kuwait-Stadt diskutierten die arabischen Ölminister über weitere mögliche Schritte. Der Vertreter des Irak verlangte, massiv gegen die USA vorzugehen. Er appellierte an die Delegierten, amerikanische Unternehmen in arabischen Ländern zu verstaatlichen, ein totales Ölembargo gegen die Vereinigten Staaten sowie alle Länder zu verhängen, die freundschaftliche Beziehungen zu Israel pflegten, und arabisches Kapital aus allen amerikanischen Banken abzuziehen. Er wies darauf hin, daß auf den arabischen Bankkonten beträchtliche Summen lägen und diese Maßnahme eine Panik wie 1929 hervorrufen könnte.


Andere arabische Ölminister sträubten sich gegen ein derart radikales Vorgehen, doch am 17. Oktober faßten sie den Entschluß, ein begrenztes Embargo zu verhängen, das mit einer Produktionskürzung um 5% beginnen sollte. Anschließend wollten sie die Öl-förderung jeden Monat um weitere 5% drosseln, bis sie ihre politischen Ziele durchgesetzt hätten. Sie waren sich darüber einig, daß die USA für ihre israelfreundliche Haltung bestraft werden müßten. Mehrere der beteiligten Länder erklärten, sie würden die Förderung nicht um fünf, sondern um 10% senken.


Am 19. Oktober bat Präsident Nixon den Kongreß, Hilfen für Israel in Höhe von 2,2 Milliarden Dollar zu bewilligen. Am 20. Oktober stoppten Saudi-Arabien und andere arabische Erdölstaaten ihre Öllieferungen in die USA vollständig. Das Ölembargo endete am 18. März 1974. Es hatte zwar nicht lange gedauert, aber die Folgen waren gravierend und einschneidend. Der Verkaufspreis für saudisches Öl stieg von 1,39 Dollar pro Barrel am 1. Januar 1970 auf 8,32 Dollar pro Barrel am 1. Januar 1974.29 Die Politiker und auch die späteren Regierungen vergaßen nie die Lektionen, die sie Anfang bis Mitte der siebziger Jahre bekamen. Langfristig trugen die Erschütterungen dieser wenigen Monate dazu bei, die Koporatokratie zu stärken; ihre drei Säulen – Großkonzerne, internationale Banken und Regierungen – kooperierten nun so eng wie nie zuvor. Diese Kooperation sollte sich als dauerhaft erweisen.


Das Ölembargo hatte auch nachhaltige Veränderungen der Einstellungen und der Politik zur Folge. Die Wall Street und Washington gelangten zu der Auffassung, daß ein derartiges Embargo nie wieder hingenommen werden dürfe. Die lebenswichtigen Ressourcen der USA zu schützen, hatte schon immer vorrangige Bedeutung besessen; nach 1973 wurde es zur Obsession. Durch das Embargo stieg Saudi-Arabien zu einem wichtigenAkteur in der Weltpolitik auf, und Washington mußte erkennen, daß das Land eine strategische Bedeutung für die amerikanische Wirtschaft besaß. Darüber hinaus zwang es die Führer der großen US-Konzerne, nach Mitteln und Wegen zu suchen, um möglichst viele Petrodollars wieder nach Amerika zu leiten, und sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, daß es der saudischen Regierung an den administrativen und institutionellen Voraussetzungen fehlte, um mit dem rapide wachsenden Reichtum des Landes richtig umzugehen.


Für Saudi-Arabien waren die zusätzlichen Einnahmen aus dem gestiegenen Ölpreis nicht nur ein Segen. Zwar flossen einerseits Milliardenbeträge in die Staatskasse, was aber andererseits dazu beitrug, einige der strengen religiösen Überzeugungen der Wahhabiten zu untergraben. Wohlhabende Saudis reisten durch die Welt. Sie besuchten Schulen und Universitäten in Europa und den Vereinigten Staaten. Sie kauften sich schicke Autos und richteten ihre Häuser auf westliche Art ein. Die konservativen religiösen Werte wurden durch eine neue Form von Materialismus ersetzt – und gerade dieser Materialismus bot uns die Chance, die Gefahr weiterer Ölkrisen zu bannen.


Kurz nach Beendigung des Embargos begann Washington mit den Saudis zu verhandeln, bot ihnen technische Unterstützung an sowie Waffen und militärische Ausbildung und eröffnete ihnen die Möglichkeit, ihr Land in das 20. Jahrhundert zu führen. Als Gegenleistung wurden Petrodollars und die Zusicherung gefordert, daß es nie wieder ein Ölembargo geben werde. Diese Verhandlungen führten zur Gründung einer ganz außergewöhnlichen Organisation, der Joint Economic Commission zwischen den USA und Saudi-Arabien (JECOR). Sie beruhte auf einem innovativen Konzept, das sich grundlegend von der traditionellen Auslandshilfe unterschied: Amerikanische Firmen sollten ausschließlich mit saudischem Geld den Aufbau Saudi-Arabiens vorantreiben.

 

Obwohl diese Kommission formal dem US-Finanzministerium zugeordnet wurde, das sie auch mit Geld ausstattete, agierte sie völlig unabhängig. In einem Zeitraum von 25 Jahren gab sie viele Milliarden Dollar aus, ohne sich jemals gegenüber dem Kongreß verantworten zu müssen. Weil es nicht um amerikanische Steuergelder ging, hatte der Kongreß keinerlei Kontrollbefugnisse. In einer detaillierten Studie über JECOR stellten
David Holden und Richard Johns fest: »Dies war das bedeutendste Abkommen dieser Art, das die USA jemals mit einem Entwicklungsland abschlossen. Es war dazu geschaffen, die USA eng mit dem Königreich zu verbinden und die gegenseitige Abhängigkeit beider Staaten zu festigen.« In einem frühen Stadium dieser Zusammenarbeit engagierte das Finanzministerium MAIN als Beratungsfirma. Ich wurde zu einer Besprechung eingeladen, in der man mir mitteilte, daß meine Aufgabe sehr heikel sei und ich alles, was ich erfuhr und was ich unternahm, absolut vertraulich zu behandeln habe. Mir kam das Ganze wie eine Geheimoperation vor. Man versuchte damals, mir gegenüber den Anschein zu erwecken, daß MAIN die führende Consultingfirma bei diesem Unternehmen sei; später aber fand ich heraus, daß wir nur eines von mehreren Beratungsunternehmen waren, deren Fachwissen gebraucht wurde.


Da sich alles unter höchster Geheimhaltung abspielte, erfuhr ich nichts über die Gespräche des Finanzministeriums mit anderen Consultants und vermag daher nicht mit Sicherheit zu sagen, wie wichtig meine Rolle bei diesen Vorgängen war, die einen Präzedenzfall schufen. Ich weiß aber, daß im Zuge dieser Unternehmung neue Standards für die EHM geschaffen und Alternativen entwickelt wurden zu den herkömmlichen Arten der Durchsetzung des imperialen Anspruchs. Ich weiß auch, daß die meisten Szenarien, die aus meinen Studien hervorgingen, schließlich auch umgesetzt wurden, und daß MAIN einen der ersten großen – und äußerst lukrativen – Aufträge in Saudi-Arabien erhielt, der mir im betreffenden Jahr einen stattlichen Bonus einbrachte.

 

Meine Aufgabe bestand darin, Prognosen darüber zu erstellen, wie sich Saudi-Arabien entwickeln würde, wenn große Geldbeträge in seine Infrastruktur investiert werden würden, und Szenarien für die Verwendung dieser Gelder zu entwerfen. Kurz gesagt, ich sollte meiner Phantasie freien Lauf lassen, um die Einspeisung Hunderter Millionen Dollar in die saudische Wirtschaft zu rechtfertigen, und zwar unter Bedingungen, die es US-amerikanischen Anlagenbauern ermöglichten, bei dieser Entwicklung eine maßgebliche Rolle zu spielen. Ich wurde angewiesen, diese Arbeit allein und ohne meine Mitarbeiter zu erledigen, und man brachte mich in einem kleinen Konferenzraum unter, der mehrere Stockwerke über den Büros meiner Abteilung lag. Ich bekam die Ermahnung mit auf den Weg, daß meine Arbeit zum einen für die nationale Sicherheit wichtig sei und sich zum anderen für MAIN als sehr lukrativ erweisen könne.


Ich hatte natürlich begriffen, daß es hier nicht um das übliche Ziel ging – dem Land Schulden aufzubürden, die es nie mehr zurückzahlen konnte –, sondern darum, Mittel und Wege zu finden, um sicherzustellen, daß möglichst viele Petrodollars wieder zurück in die Vereinigten Staaten strömten. Im Verlauf dieses Prozesses würde sich die Wirtschaft Saudi-Arabiens immer stärker mit unserer verflechten und von ihr abhängig werden, und das Land würde sich wahrscheinlich auch weiter verwestlichen und unserem Wirtschaftssystem gegenüber aufgeschlossener werden. Nachdem ich mich an die Arbeit gemacht hatte, erkannte ich, daß die Ziegen, die durch die Straßen Riads zogen, der symbolische Schlüssel waren; sie waren ein Symbol aller Schwächen der Saudis, die inzwischen um die Welt jetteten. Diese Ziegen mußten durch etwas ersetzt werden, das der Würde dieses Wüstenkönigreichs entsprach. Nur so konnten die Saudis Anschluß finden an die moderne Welt. Ich wußte auch, daß die OPEC-Ökonomen die Ölstaaten dazu drängten, sich um eine höhere Wertschöpfung aus ihrem Erdöl zu bemühen. Anstatt nur Rohöl zu exportieren, sollten sie eigene Industrien aufbauen, das Erdöl weiterverarbeiten und aus Öl Produkte herstellen, die sie der übrigen Welt zu höheren Preisen verkaufen konnten. Kurzum, sie wollten die Gewinne steigern.


Diese zweifache Erkenntnis bildete die Grundlage für eine Strategie, die ich für alle Beteiligten für vorteilhaft hielt. Die Ziegen waren natürlich nur der Anstoß gewesen. Mittels der Öleinnahmen konnten sich die Saudis von US-Firmen Müllsammel- und Müllbeseitigungsanlagen auf dem modernsten Stand der Technik bauen lassen und da-
durch die Ziegen ersetzen. Mir erschienen die Ziegen lediglich als die eine Seite einer Gleichung, die sich auf alle Bereiche der Wirtschaft des Königreiches anwenden ließ, einer Erfolgsformel, mit der sich die Interessen der saudischen Königsfamilie, des US-Finanzministeriums und meiner Vorgesetzten bei MAIN unter einen Hut bringen ließen. Auf dieser Grundlage konnte Geld zum Aufbau eines industriellen Sektors eingesetzt werden, in dem Rohöl zu Fertigprodukten für den Export verarbeitet werden sollte. Große petrochemische Anlagen würden in der Wüste entstehen, und um sie herum würden sich Industrieparks entwickeln. Natürlich erforderte die Umsetzung eines solchen Plans auch die Schaffung von Stromerzeugungskapazitäten in der Größenordnung von Tausenden Megawatt, den Bau von Übertragungs- und Verteilungsleitungen, von Straßen und Pipelines, den Aufbau von Kommunikationsnetzen und Transportsystemen, einschließlich neuer Flughäfen, verbesserter Seehäfen und einer Vielzahl von Dienstleistungseinrichtungen sowie der Infrastruktur, die erforderlich war, um dieses System am Laufen zu halten. Wir knüpften hohe Erwartungen an diesen Plan und hofften, er werde sich zu einem Modell auch für andere Teile der Erde entwickeln. Saudis, die in der Welt herumkamen, würden unser Loblied singen; sie würden die politischen Führer anderer Länder nach Saudi-Arabien einladen und ihnen zeigen, welche Wunder wir vollbracht hatten; diese Staatsmänner würden sich dann an uns wenden und uns bitten, ihnen dabei zu helfen, ähnliche Konzepte für ihre Länder zu entwickeln, und würden sich – wenn es sich nicht um OPEC-Länder handelte – darum bemühen, diese Projekte durch die Weltbank oder über andere Kredite finanzieren zu lassen. Den imperialen Ambitionen Amerikas würde dadurch bestens gedient werden.


Bei der Beschäftigung mit diesen Ideen dachte ich an die Ziegen, und die Worte meines Fahrers klangen mir häufig in den Ohren: »Es wäre unter der Würde eines Saudis, Müll einzusammeln.« Diesen Satz hatte ich schon öfter gehört, in unterschiedlichen Zusammenhängen. Es war offensichtlich, daß die Saudis ihrer Bevölkerung keine niederen Tätigkeiten zumuten wollten, sei es als Arbeiter in Fabriken oder beim Bau der geplanten Anlagen. Außerdem waren nicht genügend Arbeitskräfte vorhanden. Darüber hinaus hatte sich das Herrscherhaus verpflichtet, seinen Bürgern ein Ausbildungsniveau und einen Lebensstandard zu ermöglichen, die sich nicht vertrugen mit der Existenz von einfachen Arbeitern. Daher würden Arbeitskräfte aus anderen Ländern geholt werden müssen – aus Ländern, in denen die Löhne niedrig waren und die Menschen Arbeit brauchten. Diese Arbeitskräfte sollten möglichst aus dem Mittleren Osten und anderen islamischen Ländern wie Ägypten, Palästina, Pakistan oder dem Jemen kommen.


Dadurch eröffneten sich noch wesentlich weiterreichendere Entwicklungsperspektiven. Für diese Arbeitskräfte würden große Wohnkomplexe errichtet werden müssen, dazu Einkaufszentren, Krankenhäuser, Feuerwehr- und Polizeistationen, Wasserwerke und Anlagen zur Abwasserentsorgung, Stromversorgungseinrichtungen, Kommunikations-und Verkehrsnetze: Es mußten komplette neue Städte aus dem Wüstenboden gestampft
werden. Dies bot auch die Möglichkeit, neue Technologien zu erproben, insbesondere auf den Gebieten der Meerwasserentsalzung, der Mikrowellensysteme, der Gesundheitsversorgung und der Computertechnik.

 

In Saudi-Arabien würden die Träume von Entwicklungsplanern Wirklichkeit werden, und Vertreter von Ingenieurfirmen und Anlagenbauern würden ideale Bedingungen vorfinden. Hier bot sich eine historisch einmalige Chance: ein unterentwickeltes Land mit nahezu unbegrenzten finanziellen Mitteln, das den Wunsch hatte, auf einen Schlag und im Zeitraffer zur Moderne aufzuschließen. Ich muß gestehen, daß mir mein Job großen Spaß machte. Weder in der Boston Public Library noch in anderen Bibliotheken waren verläßliche Daten zu Saudi-Arabien aufzutreiben, welche die Anwendung ökonometrischer Modelle ermöglicht hätten. Aber angesichts dieser immensen Aufgabe – der vollständigen und unverzüglichen Transformation eines ganzen Landes in einem bisher nicht gekannten Ausmaß – wären historische Daten ohnehin irrelevant gewesen.


Folglich erwartete niemand quantitative Analysen dieser Art, zumindest nicht im jetzigen Entwicklungsstadium unseres Projekts. Ich ließ einfach nur meine Phantasie spielen und verfaßte Berichte, in denen dem Wüstenkönigreich eine glänzende Zukunft vorausgesagt wurde. Ich verfügte über einige Zahlen, mit denen ich grobe Schätzungen darüber anstellen konnte, was beispielsweise die Erzeugung von einem Megawatt Strom, der Bau einer Meile Autobahn oder die Bereitstellung von Wasser, Müllentsorgung, Wohnraum, Verpflegung und anderer Dienstleistungen für einen Arbeiter kosten würden. Ich mußte diese Schätzungen noch nicht verfeinern oder Schlußfolgerungen daraus ableiten. Meine Aufgabe bestand schlicht darin, eine Reihe von Plänen (die man zutreffender vielleicht als »Visionen« bezeichnen müßte) zu entwerfen, was im Land möglich war, und die damit verbundenen Kosten einigermaßen abzuschätzen. Dabei behielt ich die eigentlichen Ziele stets im Blick: die Gewinne für die amerikanischen Firmen zu maximieren und Saudi-Arabiens Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten stetig zu erhöhen. Ich brauchte nicht lange, um zu verstehen, wie eng diese beiden Ziele miteinander verbunden waren; fast alle diese neuen Projekte würden regelmäßige Überprüfung und Anpassung an veränderte Gegebenheiten erfordern, denn sie wurden so stark von technischen Faktoren bestimmt, daß die Firmen, die sie ursprünglich entwickelt hatten, sie auch weiterhin warten und modernisieren mußten. Im weiteren Verlauf meiner Arbeit erstellte ich zwei Listen für jedes der Projekte, die ich ins Auge faßte: eine für die Entwicklungs- und Konstruktionsaufträge und eine für die langfristigen Wartungs- und Managementvereinbarungen. MAIN, Bechtel, Brown & Root, Halliburton, Stone & Webster und viele andere US-amerikanische Anlagenbauer sollten auf Jahrzehnte hinaus stattliche Gewinne einsacken.


Über die rein ökonomischen Belange hinaus gab es einen weiteren Aspekt, durch den Saudi-Arabien von uns abhängig werden würde, wenn auch auf andere Weise. Man mußte damit rechnen, daß die Modernisierung dieses ölreichen Landes auf Proteste stoßen würde. Konservative Muslime etwa würden wütend protestieren, Israel und andere Nachbarstaaten würden sich bedroht fühlen. Die wirtschaftliche Entwicklung dieses Landes würde daher auch einem weiteren Wirtschaftszweig Auftrieb verleihen: dem Schutz der arabischen Halbinsel. Privaten Unternehmen, die sich auf diese Aufgaben spezialisierten, wie auch dem US-Militär und den amerikanischen Rüstungskonzernen würden lukrative Aufträge winken – und wiederum langfristige Wartungs- und Managementverträge. Ihre Anwesenheit würde weitere Bauprojekte erforderlich machen, wie etwa Flughäfen, Raketensilos, Militärbasen und die gesamte Infrastruktur, die zwingende Voraussetzungen für diese Einrichtungen sind. Ich schickte meine Berichte in versiegelten Umschlägen mit der Behördenpost, adressiert an den »Treasury Department Project Manager«. Hin und wieder traf ich mich mit anderen Mitgliedern unseres Teams – den Vizepräsidenten von MAIN und meinen Vorgesetzten. Da wir keine offizielle Bezeichnung für dieses Projekt hatten, das noch in der Forschungs- und Entwicklungsphase steckte und noch nicht Bestandteil von JECOR
war, sprachen wir hinter vorgehaltener Hand von SAMA. Dies konnte man als Abkürzung für »Saudi-Arabian Moneylaundering Affair« (Saudi-Arabisches Geldwäscheprojekt) verstehen, es war aber auch eine nicht ernst gemeinte Anspielung auf die Zentralbank des Wüstenkönigreichs, die Saudi-Arabian Monetary Agency (SAMA).

 

Gelegentlich schaute ein Abgesandter des Finanzministeriums bei uns vorbei. Während dieser Besprechungen stellte ich meist nur wenige Fragen. In erster Linie beschrieb ich meine Arbeit, griff die Bemerkungen der anderen auf und versuchte allen Wünschen zu entsprechen. Die Vizepräsidenten und die Vertreter des Finanzministeriums waren besonders angetan von meinen Ideen zu den langfristigen Service- und Managementverträgen. Einer der Vizepräsidenten prägte in diesem Zusammenhang einen Satz, den wir später häufig zitierten; er bezeichnete das Wüstenkönigreich als »die Kuh, die wir so lange melken können, bis wir in Pension gehen«. Mir rief dieser Satz allerdings stets Bilder von Ziegen, nicht von Kühen vor Augen.


Bei diesen Besprechungen fand ich heraus, daß mehrere unserer Mitbewerber an ähnlichen Projekten arbeiteten, und daß wir alle am Ende gewinnträchtige Aufträge als Lohn für unsere Mühen erhalten würden. Ich vermutete, daß MAIN und die übrigen Firmen die Kosten für diese vorbereitenden Arbeiten aufbringen und dadurch ein kurzfristiges Risiko eingehen würden, um einen Fuß in die Tür zu bekommen. Diese Vermutung wurde dadurch erhärtet, daß die Ziffer, unter der ich meinen Zeiteinsatz auf unseren Arbeitszeitnachweisen erfaßte, zu einem Konto gehörte, auf dem allgemeine und administrative Gemeinkosten verbucht wurden. Dieses Verfahren war typisch für die Forschungs- und Entwicklungs- oder Vorbereitungsphase der meisten Projekte. Im konkreten Fall jedoch überstiegen die Anfangsausgaben den üblichen Rahmen bei weitem, aber die Vizepräsidenten waren wohl außergewöhnlich zuversichtlich bezüglich der späteren Rendite.

 

Obwohl wir wußten, daß auch unsere Konkurrenten mitmischten, gingen wir davon aus, daß es genügend zu tun geben würde. Ich war auch lange genug im Geschäft, um zu wissen, daß ein Zusammenhang bestand zwischen der Höhe der Belohnung und der Akzeptanz, die unsere Arbeit beim Finanzministerium fand, und daß jene Consultingfirmen, deren Vorschläge schließlich umgesetzt wurden, auch die besten Kontrakte ergattern. Ich empfand es als persönliche Herausforderung, Szenarien zu entwerfen, die es bis zur Umsetzungsreife schafften. Mein Ansehen bei MAIN stieg rasant. Da wir bei SAMA eine Schlüsselfunktion hatten, würde sich das Projekt noch beschleunigen, wenn wir Erfolg hatten. In unseren Besprechungen diskutierten wir auch offen darüber, daß SAMA und das gesamte JEGOR-Unternehmen vielleicht neue Maßstäbe setzen würde. Es repräsentierte einen neuartigen Ansatz zur Beschaffung lukrativer Aufträge in Ländern, die nicht darauf angewiesen waren, Kredite bei internationalen Banken aufzunehmen. Dabei fielen uns sofort der Iran und der Irak als weitere Kandidaten ein. Wir hielten es in Anbetracht der menschlichen Natur durchaus für möglich, daß die Führer dieser Länder SaudiArabien nacheifern könnten. Es galt schon fast als sicher, daß das Ölembargo von 1973 – das ursprünglich so negativ aufgenommen worden war – den Anlagenbauern und Baukonzernen viele unerwartete Chancen eröffnen und den Weg zur globalen Vorherrschaft weiter ebnen würde.


Ich beschäftigte mich ungefähr acht Monate lang mit diesen Zukunftsvisionen – wenn auch niemals länger als mehrere Tage hintereinander –, abgeschottet in meinem privaten Konferenzraum oder in meiner Wohnung, von der aus man den Stadtpark Boston Common überblickte. Meine Mitarbeiter saßen alle an anderen Aufgaben und hatten genug zu tun, doch ich schaute gelegentlich bei ihnen vorbei. Im Lauf der Zeit ließ die Geheimniskrämerei nach, die unsere Arbeit umgab. Immer mehr Leute bekamen davon Wind, daß in Bezug auf Saudi-Arabien etwas Großes in Planung war. Die Spannung wuchs, Gerüchte machten die Runde. Die Vizepräsidenten und die Vertreter des Finanzministeriums wurden nun etwas offener – vermutlich zum Teil deshalb, weil auch sie mehr Informationen erhielten und inzwischen auch Einzelheiten über das ehrgeizige Projekt bekannt wurden.

 

Diesem sich abzeichnenden Plan zufolge erwarteten die Vereinigten Staaten von den Saudis, daß sie die Ölversorgung garantierten und die Preise auf einem Niveau hielten, das zwar schwanken durfte, aber stets für die USA und ihre Verbündeten akzeptabel sein mußte. Wenn andere Länder wie der Iran, der Irak, Indonesien oder Venezuela mit einem Embargo drohten, sollte Saudi-Arabien mit seinen riesigen Ölvorkommen einspringen und die entstehende Versorgungslücke schließen; schon allein das Wissen, daß die Saudis dies tun würden, würde andere Länder davon abhalten, auch nur an die Ölwaffe zu denken. Im Gegenzug für diese Zusicherung würden die USA dem Haus Saud ein außerordentlich attraktives Angebot machen: Washington würde ihnen uneingeschränkte politische und – falls erforderlich – auch militärische Unterstützung zusichern und dadurch ihre Existenz als Herrscherhaus langfristig garantieren.


Dieses Angebot konnte das Haus Saud schwerlich ausschlagen in Anbetracht der geographischen Lage seines Landes, seiner fehlenden militärischen Macht und der Tatsache, daß es sich gegen Nachbarstaaten wie den Iran, Syrien, den Irak oder Israel kaum selbst verteidigen konnte. Washington nutzte darüber hinaus seine starke Position, um eine weitere wichtige Bedingung durchzusetzen, eine Bedingung, welche die Rolle der EHM in der Welt neu definierte und aus der sich ein Modell entwickelte, das wir später auch in anderen Ländern, vor allem im Irak, anzuwenden versuchten. Rückblickend erscheint es mir immer noch schwer verständlich, weshalb sich Saudi-Arabien auf dieses Ansinnen einließ. Die übrige arabische Welt, die OPEC und andere islamische Länder zeigten sich empört, als sie die Konditionen dieses Abkommens herausfanden und erkannten, daß das Königshaus vor Washingtons Forderungen kapituliert hatte.


Unter anderem wurde vereinbart, daß Saudi-Arabien mit seinen Petrodollars US-Staatsanleihen kaufen würde; die Zinsen, die diese Anleihen abwarfen, würde das amerikanische Finanzministerium dafür verwenden, aus dem mittelalterlichen Saudi-Arabien ein modernes, industrialisiertes Land zu machen. Anders ausgedrückt, die Zinserträge aus den Öleinnahmen des Landes, die sich auf viele Milliarden Dollar beliefen, würden an US-Unternehmen fließen, um die von mir (und vermutlich auch von einigen unserer Konkurrenten) entwickelten Visionen über die Verwandlung Saudi-Arabiens in eine moderne Industriemacht zu verwirklichen. Das US-Finanzministerium würde uns damit beauftragen, mit dem Geld der Saudis auf der gesamten arabischen Halbinsel Infrastruktur-Projekte zu realisieren und sogar ganze Städte aus dem Boden zu stampfen.


Obwohl sich die Saudis ein Mitwirkungsrecht bezüglich der allgemeinen Natur dieser Projekte vorbehielten, sollte in der Praxis eine elitäre Gruppe von Ausländern (überwiegend Ungläubige in den Augen der Muslime) das künftige Erscheinungsbild und die wirtschaftliche Struktur der arabischen Halbinsel bestimmen. Und dies alles sollte sich servativen wahhabitischen Prinzipien beruhte und seit Jahrhunderten auf der Grundlage dieser Lehre regiert worden war. Dies verlangte von den Mitgliedern des Königshauses weitgehende Selbstverleugnung, aber unter den gegebenen Umständen und aufgrund des politischen und militärischen Drucks durch Washington erkannten sie wohl, daß ihnen nicht viel anderes übrigblieb.


Aus unserem Blickwinkel boten sich schier unbegrenzte Profite. Es war ein fantastisches Geschäft, das durchaus neue Maßstäbe setzen konnte. Und obendrein mußte dazu nicht die Zustimmung des Kongresses eingeholt werden – ein Verfahren, das privaten Konzernen wie Bechtel oder MAIN, die sich ungern in die Bücher schauen lassen,
überhaupt nicht gefällt. Thomas W. Lippann, ein Mitarbeiter des Middle East Institute und ehemaliger Journalist, fasste die wichtigsten Punkte dieses Geschäfts sehr anschaulich zusammen:


Die Saudis, die in Geld schwimmen, überwiesen Hunderte Millionen Dollar an das amerikanische  Finanzministerium, das dieses Geld verwaltete, bis es dazu benötigt wurde, Firmen oder Beschäftigte zu bezahlen. Durch dieses System wurde sichergestellt, daß die saudischen Öleinnahmen wieder in die amerikanische Wirtschaft zurückflossen … Es gewährleistete auch, daß die Verantwortlichen jegliche Projekte in Angriff nehmen konnten, die sie oder die Saudis für nützlich hielten, ohne sie gegenüber dem Kongreß rechtfertigen zu
müssen.


Die Parameter für dieses historische Unterfangen zu definieren, ging schneller vonstatten, als alle es für möglich gehalten hätten. Doch anschließend mußten wir Mittel und Wege zu seiner praktischen Umsetzung finden. Um den Prozeß in Gang zu bringen, wurde ein hochrangiger Regierungsvertreter nach Saudi-Arabien entsandt – eine höchst vertrauliche Mission. Ich weiß es nicht sicher, aber ich glaube, dieser Sondergesandte war Henry Kissinger.

 

Die erste Aufgabe dieses Gesandten, wer immer es war, bestand darin, die saudische Königsfamilie daran zu erinnern, was im benachbarten Iran geschehen war, nachdem Mossadegh gegen die britischen Ölkonzerne vorgegangen war. Dann mußte er den Saudis einen Plan vorlegen, der für sie zu verlockend war, um ihn abzulehnen, und ihnen deutlich machen, daß ihnen eigentlich auch keine Alternative blieb. Ich bin überzeugt, daß ihnen der Eindruck vermittelt wurde, daß sie nur zwei Möglichkeiten hatten: Entweder sie nahmen unser Angebot an und erhielten dafür die Zusicherung, daß wir sie dauerhaft stützen würden, oder sie lehnten es ab – dann würde ihnen ein ähnliches Schicksal blühen wie Mossadegh. Als der Gesandte nach Washington zurückkehrte, brachte er die Nachricht mit, daß die Saudis grundsätzlich zur Zusammenarbeit bereit seien.


Es gab nur noch ein kleines Hindernis. Wir mußten die einflußreichsten Mitglieder der saudischen Regierung von unseren Plänen überzeugen. Dies sei eine Familienangelegenheit, erklärte man uns. Saudi-Arabien war keine Demokratie, aber dennoch mußte im Haus Saud ein gewisser Konsens hergestellt werden.


Im Jahr 1975 wurde ich auf eine dieser Schlüsselfiguren angesetzt. Ich bezeichnete ihn immer als Prinz W., aber er war in Wirklichkeit ein Kronprinz. Meine Aufgabe bestand darin, ihm klarzumachen, daß das »Saudi-Arabische Geldwäscheprojekt« sowohl seinem Land als auch ihm persönlich nützen werde. Dies war nicht so einfach, wie es zunächst schien. Prinz W. betrachtete sich als gläubigen Wahhabiten und erklärte, er sei gegen eine Verwestlichung seines Landes. Außerdem, so sagte er, durchschaue er sehr wohl, wie heimtückisch unser Plan sei. Wir verfolgten dieselben Ziele wie die Kreuzritter vor einem Jahrtausend: die Christianisierung der arabischen Welt. Damit hatte er sogar zum Teil Recht. Meiner Ansicht nach bestand zwischen uns und den Kreuzfahrern nur ein gradueller Unterschied. Im Mittelalter hatte die europäische Christenheit behauptet, sie wolle die Muslime vor der Verdammnis retten; wir behaupteten, wir wollten den Saudis bei der Modernisierung ihres Landes helfen. In Wirklichkeit aber ging es den Kreuzrittern wie der Korporatokratie in erster Linie darum, ihre Machtbereiche auszuweiten.


Doch trotz aller religiösen Strenge hatte Prinz W. eine Schwäche – er war extrem scharf auf Blondinen. Es mag grotesk erscheinen, hier dieses Klischee zu bemühen, und ich sollte auch erwähnen, daß Prinz W. der einzige Mann unter den vielen Saudis war, die ich kennenlernte, der diese Neigung besaß oder zumindest der einzige, der sie nach außen erkennen ließ. Doch es spielte eine gewisse Rolle bei der Einfädelung dieses historischen Projekts, und es zeigt, wozu ich bereit war, um meine Aufgabe zu erfüllen.