34 Wiedersehen mit Ecuador

Venezuela war ein klassischer Fall. Doch als ich die Ereignisse verfolgte, bemerkte ich mit Erstaunen, daß sich die entscheidenden Auseinandersetzungen in einem anderen Land abspielten. Sie waren nicht nur deswegen wichtiger, weil hier mehr Geld oder mehr Menschenleben auf dem Spiel standen, sondern weil sie sich um Fragen drehten, die weit über die materiellen Ziele hinausgingen, durch die sich ein Imperium in der Regel definiert. Diese Frontlinien verliefen quer durch die Armeen der Banker, der Unternehmenslenker und der Politiker und reichten tief in die Seele der modernen Zivilisation. Und sie hatten sich in einem Land herausgebildet, das ich kennen und lieben gelernt hatte, jenem Land, das meine erste Station als Freiwilliger des Peace Corps gewesen war: in Ecuador.

 

Seit ich dieses kleine Land 1968 zum ersten Mal besucht hatte, war es zu einem typischen Opfer der Korporatokratie geworden. Meine Kollegen und unsere modernen Nachfolger aus den Konzernen hatten es geschafft, dieses Land vollständig in den Ruin zu treiben. Wir liehen ihm Milliarden Dollar, damit es unsere Ingenieurfirmen und Anlagenbauer mit Projekten beauftragen konnte, die seinen wohlhabendsten Familien zu-
gute kommen würden. In den vergangenen drei Jahrzehnten stieg dadurch in Ecuador der Anteil der Armen von 50% auf 70%, die Zahl der Unterbeschäftigten oder Arbeitslosen schnellte von 15% auf 70% empor, die Staatsverschuldung wuchs von 240 Millionen Dollar auf 16 Milliarden Dollar, und der Anteil der nationalen Ressourcen, der für die ärmsten Schichten der Bevölkerung aufgewendet wurde, fiel von 20% auf 6%.
Heute muß Ecuador nahezu die Hälfte seines Staatshaushalts für die Rückzahlung seiner Schulden aufwenden – anstatt damit jenen Millionen Bürgern zu helfen, die unter der Armutsgrenze leben.


Die Situation in Ecuador zeigt deutlich, daß nicht eine Verschwörung hinter dieser Entwicklung steckte; es war vielmehr ein Prozeß, der sich gleichermaßen unter demokratischen wie republikanischen US-Regierungen vollzog und an dem alle großen transnationalen Banken, viele Konzerne und ausländische Hilfsorganisationen aus verschiedenen Ländern beteiligt waren. Die Vereinigten Staaten hatten die Führungsrolle inne, handelten aber nicht allein.


Im Verlauf von drei Jahrzehnten leisteten Tausende von Männern und Frauen ihren Beitrag dazu, Ecuador in die verzweifelte Lage zu bringen, in der es sich zu Beginn des neuen Jahrtausends befindet. Einigen von ihnen, wie mir etwa, war klar, was sie anrichteten, aber die allermeisten machten einfach nur ihre Arbeit und taten das, was man ihnen in Business Schools, an juristischen Fakultäten oder auf technischen Hochschulen beigebracht hatte, oder sie folgten dem Beispiel von Vorgesetzten, die durch ihre persönliche Gier die Funktionsweise des Systems ebenso demonstrierten wie durch die Belohnungen und Bestrafungen, die darauf zielten, es zu festigen. Diese Leute waren davon überzeugt, daß sie etwas Gutes taten, manche glaubten sogar, sie würden einem armen Volk helfen. Obwohl diese Leute nicht wußten, was sie taten, irregeführt wurden oder vielfach auch Selbsttäuschungen erlagen, gehörten sie nicht zu einer geheimen Gruppe von Verschwörern; sie waren das Produkt eines Systems, das die subtilste und effektivste Form des Imperialismus hervorgebracht hat, welche die Welt bislang erlebt hat. Niemand mußte sich mehr auf die Suche begeben nach Männern und Frauen, die man bestechen oder einschüchtern konnte – sie waren inzwischen allesamt von den Unternehmen, Banken und Regierungsbehörden rekrutiert worden. Die Bestechungsgelder bestanden aus Gehältern, Bonuszahlungen, Pensionen und Versicherungspolicen; die Drohungen beruhten auf sozialen Zwängen, dem Druck aus dem Kollegenkreis und den Verpflichtungen hinsichtlich der späteren Ausbildung ihrer Kinder.

 

Dieses System hatte spektakuläre Erfolge erzielt. Als das neue Jahrtausend heraufzog, saß Ecuador in einer Falle, aus der es kein Entrinnen gab. Wir hatten das Land in der Hand, so wie ein Mafia-Don einen Mann in der Hand hat, der seine Tochter heiratet und in dessen kleines Geschäft er Geld eingeschossen hat. Wie alle guten Mafiosi hatten wir uns Zeit gelassen. Wir konnten es uns leisten, geduldig zu sein, denn wir wußten, daß unterhalb des ecuadorianischen Regenwalds ein Meer aus Öl liegt und daß unsere Zeit kommen würde.


Und es schien bereits so weit zu sein, als ich Anfang 2003 in meinem Subaru-Gelän-dewagen von Quito zu der Dschungelstadt Shell unterwegs war. Chávez hatte in Venezuela wieder die Oberhand gewonnen. Er hatte George W. Bush die Stirn geboten und gewonnen. Die Invasion in Saddams Irak stand kurz bevor. Die bekannten Ölvorkommen waren auf den niedrigsten Stand seit fast drei Jahrzehnten gesunken, und es hatte nicht den Anschein, als würden wir aus unseren wichtigsten Quellen noch recht viel mehr herausholen können – und dementsprechend sahen die Bilanzen der Korporatokratie aus. Wir brauchten einen neuen Trumpf. Es wurde Zeit, die ecuadorianische Karte auszuspielen.


Als ich an dem gigantischen Staudamm am Fluß Pastaza vorüberfuhr, wurde mir klar, daß es in Ecuador nicht einfach um die klassische Auseinandersetzung zwischen Reich und Arm, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten ging. Diese Konflikte würden auch uns als Zivilisation definieren. Wir waren entschlossen, dieses kleine Land zu zwingen, seine Regenwälder am Amazonas für unsere Ölkonzerne zu öffnen. Dies jedoch würde unermeßliche Verwüstungen zur Folge haben. Wenn wir auf der Rückzahlung der Schulden beharrten, würden wir Auswirkungen unabsehbaren Ausmaßes auslösen. Es ging nicht nur darum, daß indigene Kulturen, viele Menschenleben, Hunderte von Tierarten, Reptilien, Fischen, Insekten und Pflanzen vernichtet werden würden, von denen einige möglicherweise heilende Substanzen enthielten. Es beschränkte sich auch nicht darauf, daß der Regenwald die gefährlichen, von der Industrie erzeugten Treibhausgase absorbiert, Sauerstoff abgibt, der für uns lebenswichtig ist, und die Wolken entstehen läßt, die einen Großteil des Süßwassers der Erde transportieren. Es ging weit hinaus über die Standardargumente, die von Umweltschützern vorgebracht werden, wenn Lebensräume bedroht sind, und rührte tief an unsere Seele.


Wenn wir an dieser Strategie festhielten, würden wir ein imperialistisches Verhaltensmuster fortsetzen, dessen Ursprünge weit in die Zeit vor der Entstehung des Römischen Reiches zurückreichen. Wir beklagen die Sklaverei, aber unser globales Imperium versklavt mehr Menschen als die Römer und alle anderen Kolonialmächte vor uns. Ich fragte mich, weshalb wir in Ecuador eine so kurzsichtige Politik betrieben und dennoch weiter mit unserem kollektiven Gedächtnis leben konnten. Als ich durch die Fenster des Subaru auf die abgeholzten Berghänge der Anden schaute, die zu meiner Zeit im Peace Corps noch üppig mit tropischer Vegetation bedeckt gewesen waren, kam mir plötzlich ein anderer Gedanke. Es dämmerte mir, daß die Ansicht, Ecuador sei ein entscheidendes Schlachtfeld, eine völlig subjektive Sichtweise war. In Wirklichkeit war jedes Land, in dem ich gearbeitet hatte, jedes rohstoffreiche Land, das vom Imperium umgarnt wurde, gleichermaßen wichtig. Ich hatte eine besondere Bindung an dieses Land, die Ende der sechziger Jahre entstanden war, als ich hier meine politische Unschuld verloren hatte. Doch dies war eine rein persönliche Einstellung. Die ecuadorianischen Regenwälder sind zweifellos wertvoll, ebenso die dort lebenden Völker und alle anderen dort heimischen Lebensformen, doch sie besitzen keinen größeren Wert als die Wüsten des Irans oder Yamins persische Landsleute. Sie sind nicht wertvoller als die Berge Javas, das Meer vor den Küsten der Philippinen, die Steppen Asiens, die Savannen Afrikas, die Wälder Nordamerikas, die Eisberge der Arktis oder Hunderttausende andere bedrohte Orte. Sie alle verkörpern eine Konfliktlinie, und sie alle zwingen uns, die Tiefen unserer Seele und unseres kollektiven Unbewußten zu erforschen Ich dachte an die Statistiken, in denen dies alles kurz und prägnant zusammengefaßt wird: Das Verhältnis zwischen dem Einkommen jenes Fünftels der Weltbevölkerung, das in den reichsten Ländern lebt, und dem Fünftel in den ärmsten Ländern veränderte sich von 30 zu 1 im Jahr 1960 auf 74 zu 1 im Jahr 1995.91 Und gleichzeitig erzählen uns die Weltbank, die US-Agency for International Development, der IWF und all die anderen Banken, Unternehmen und Regierungen, die mit Entwicklungs-»Hilfe« befaßt sind, daß sie gute Arbeit machen und daß es vorangeht. Nun war ich also wieder in Ecuador, einem Land, das nur eines von vielen Schlachtfeldern ist, das aber einen besonderen Platz in meinem Herzen hat. Wir schrieben das Jahr 2003, und es waren 35 Jahre vergangen, seit ich als Mitglied einer US-Organisation, die das Wort »Frieden« in ihrem Namen führt, zum ersten Mal in dieses Land gekommen war. Dieses Mal wollte ich mithelfen, einen Krieg zu verhindern, den ich drei Jahrzehnte lang mit vorzubereiten geholfen hatte.


Eigentlich hätten die Vorgänge in Afghanistan, im Irak und in Venezuela uns davon abhalten sollen, uns in einen weiteren Konflikt zu stürzen; doch die Lage in Ecuador war anders. Dieser Krieg würde nicht den Einsatz der US-Armee erfordern, denn er würde von einigen zehntausend einheimischen Kriegern ausgefochten werden, die nur mit Speeren, Macheten und einschüssigen Vorderladern bewaffnet waren. Sie würden einer modernen ecuadorianischen Armee gegenüberstehen, einer Hand voll amerikanischer Berater von den Special Forces sowie Söldnern, die von den Schakalen ausgebildet worden waren und im Dienste der Ölkonzerne standen. Ähnlich wie von dem 1995 ausgefochtenen Konflikt zwischen Ecuador und Peru würden auch von diesem Krieg die
meisten Menschen in den USA nie etwas erfahren, und durch die jüngsten Ereignissehatte die Wahrscheinlichkeit eines solchen Krieges deutlich zugenommen. Im Dezember 2002 hatten Vertreter eines Ölkonzerns eine Indiogemeinschaft beschuldigt, einige ihrer Arbeiter verschleppt und als Geiseln genommen zu haben; sie deuteten an, die betreffenden Krieger seien Mitglieder einer Terrorgruppe, die möglicherweise Verbindungen zu Al-Qaida unterhalte. Die Angelegenheit war besonders heikel, weil diese Ölfirma noch keine Bohrgenehmigung von der Regierung erhalten hatte. Dennoch behauptete die Ölgesellschaft, ihre Arbeiter hätten das Recht, vorbereitende Erkundungen durchzuführen – was von den Vertretern des Stammes einige Tage später energisch bestritten wurde, als sie ihre Sicht der Dinge darlegten.


Die Ölarbeiter, so erklärten die Vertreter der Indios, seien in ein Gebiet eingedrungen, zu dem ihnen der Zutritt verboten sei; die Krieger hätten weder Waffen getragen noch den Arbeitern in irgendeiner Form Gewalt angedroht. Sie hätten die Arbeiter vielmehr in ihr Dorf geleitet, wo sie ihnen etwas zu essen und chicha, ein selbstgebrautes Bier, angeboten hätten. Während sich ihre Besucher stärkten, hätten die Krieger die einheimischen Führer der Ölarbeiter überredet, zu ihren Unterkünften zurückzukehren. Die Ölarbeiter, so betonten die Stammesvertreter, würden keineswegs gegen ihren Willen festgehalten, sie könnten jederzeit gehen, wohin sie wollten.


Während ich diese Straße entlangfuhr, dachte ich daran, was mir die Shuar erklärt hatten, als ich 1990 nach dem Verkauf von IPS zu ihnen zurückgekehrt war und ihnen angeboten hatte, ihnen beim Schutz ihrer Wälder zu helfen. »Der Traum wird Welt«, hatten sie gesagt und darauf hingewiesen, daß wir im Norden von großen Fabriken, schikken Autos und riesigen Wolkenkratzern träumten. Aber jetzt würden wir feststellen, daß unsere Vision in Wirklichkeit ein Alptraum gewesen war, der uns letztlich alle vernichten würde.

 

»Verändert diesen Traum«, hatten die Shuar mir geraten. Und jetzt, mehr als zehn Jahre später und trotz der Bemühungen vieler Menschen und zahlreicher Non-Profit-Organisationen, einschließlich jener, für die ich tätig gewesen war, hatte dieser Alptraum neue und noch bedrohlichere Ausmaße angenommen. Als ich schließlich in der Dschungelstadt Shell ankam, wurde ich gleich zu einem Treffen abgeholt. Die anwesenden Männer und Frauen vertraten verschiedene Stämme: die Kichwa, die Shuar, die Shiwiar und die Zaparo. Einige waren tagelang durch den Dschungel gewandert, andere waren mit kleinen Flugzeugen eingeflogen, die von Hilfsorganisationen bereitgestellt worden waren. Einige trugen ihre traditionelle Tracht, ihre Gesichtsbemalung und  federngeschmückte Stirnbänder, die meisten jedoch versuchten sich an die Stadtbewohner anzupassen und hatten Jeans, T-Shirts und Schuhe an.


Die Vertreter jener Gemeinschaft, die der Verschleppung der Ölarbeiter beschuldigt wurde, ergriffen als erste das Wort. Sie erzählten, daß kurz nach der Rückkehr der Arbeiter zu ihrer Firma mehr als hundert ecuadorianische Soldaten in ihrem kleinen Dorf aufgetaucht seien. Sie erinnerten uns daran, daß gerade eine besondere Saison im Regenwald begonnen habe und der chonta Früchte ansetze. Dieser Baum gilt den indigenen Kulturen als heilig; er trägt nur einmal im Jahr Früchte und signalisiert damit den Beginn der Paarungszeit für zahlreiche Vogelarten der Region, auch für einige seltene und bedrohte Arten. Wenn sie sich auf diesen Bäumen versammeln, sind die Vögel besonders schutzlos. Die Stämme achten strikt darauf, daß diese Vögel während der Chonta-Saison nicht gejagt werden.


»Die Soldaten hätten keinen ungünstigeren Zeitpunkt wählen können«, sagte eine Frau. Ich konnte ihren Schmerz und die Empörung ihrer Begleiter nachempfinden, als sie erzählten, daß die Soldaten gegen dieses Verbot verstoßen hätten. Sie hätten die Vögel zum Spaß geschossen und einige davon verzehrt. Darüber hinaus hätten sie ihre Familiengärten, Bananenpflanzen und Maniokfelder verwüstet und dabei an vielen Stellen den dünnen Mutterboden für immer zerstört. Sie hätten mit Sprengstoff in den Flüssen gefischt und die Haustiere der Familien geschlachtet. Sie hätten die Gewehre und Blasrohre der Dorfbewohner beschlagnahmt, häßliche Latrinen ausgehoben, die Flüsse mit Heizöl und Lösungsmitteln verschmutzt, die Frauen sexuell belästigt und Müll in die Gegend geworfen, der Insekten und Ungeziefer anzog.


»Uns blieben nur zwei Möglichkeiten«, sagte ein Mann. »Wir konnten uns zur Wehr setzen oder wir mußten die Demütigungen schlucken und uns bemühen, den Schaden so weit wie möglich zu beheben. Wir sind zu dem Schluß gelangt, daß die Zeit zum Kämpfen noch nicht gekommen war.« Er schilderte, wie sie versucht hätten, durch Verzicht auf Nahrung mit den Folgen der Übergriffe der Soldaten zurechtzukommen. Er bezeichnete es als Fasten, aber es erschien eher wie freiwilliges Hungern. Ältere Leute und Kinder litten bereits an Unterernährung und waren krank geworden. Sie berichteten von Bedrohungen und Bestechungsversuchen. »Mein Sohn«, erzählte eine Frau, »spricht Englisch, Spanisch und mehrere einheimische Dialekte. Er hat als Führer und Dolmetscher für eine Firma gearbeitet, die Ökotourismus veranstaltet. Sie zahlte ihm ein gutes Gehalt. Aber die Ölgesellschaft hat ihm das Zehnfache geboten. Hätte er ablehnen sollen? Jetzt schreibt er Briefe, in denen er seine alte Firma kritisiert und alle, die uns helfen wollen, während er die Leute von der Ölgesellschaft als unsere Freunde bezeichnet.« Sie schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. »Ergehört nicht mehr zu uns. Mein Sohn …« Ein älterer Mann, der den traditionellen Federschmuck eines Schamanen trug, erhob sich. »Ihr wißt, daß die drei Leute, die wir als unsere Vertreter für die Verhandlungen mit der Ölgeselischaft gewählt haben, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind? Nun, ich will hier nicht behaupten, was man so häufig hört, daß die Ölgesellschaft diesen Absturz vorsätzlich herbeigeführt hat. Aber ich kann euch sagen, daß der Tod dieser drei Personen eine große Lücke in unsere Reihen gerissen hat. Die Ölgesellschaft hat keine Zeit verloren, diese Lücke mit ihren eigenen Leuten zu füllen.« Ein anderer Mann hielt einen Vertrag hoch und begann ihn vorzulesen. Für 300.000 Dollar wurde die Nutzung eines großen Gebietes an eine Holzgesellschaft übertragen. Der Vertrag war von drei Stammesvertretern unterzeichnet. »Das sind nicht ihre echten Unterschriften«, erklärte er. »Ich muß es wissen, denn eine stammt angeblich von meinem Bruder. Das ist eine andere Art, uns fertig zu machen.
Unsere Führer sollen diskreditiert werden.« Ich wunderte mich nicht über diese Vorfälle in einem Teil Ecuadors, in dem die Ölkonzerne noch keine Bohrerlaubnis erhalten hatten. Sie hatten schon in vielen ähnlichen Gegenden gebohrt, die Indiogemeinschaften kannten die Folgen und hatten die Vernichtung ihrer Nachbarn miterlebt. Als ich dasaß und zuhörte, überlegte ich, wie wohl die Bürger meines Landes reagieren würden, wenn über derartige Zusammenkünfte in den Abendnachrichten von CNN berichtet werden würde.


Dieses Treffen war sehr eindrucksvoll, und die Informationen, die ich dabei erhielt, beunruhigten mich zutiefst. Aber da war noch etwas anders. In den Pausen, beim Essen oder am Abend, wenn ich mich privat mit einigen Teilnehmern unterhielt, wurde ich häufig gefragt, weshalb die USA gegen den Irak losschlagen wollten. Der bevorstehende Krieg war ein beherrschendes Thema auf den Titelseiten der ecuadorianischen Zeitungen, die bis in diese Dschungelstadt gelangten, aber die Berichterstattung unterschied sich deutlich von jener in den Vereinigten Staaten. Es wurde auf die Beziehungen der Familie Bush zu Ölkonzernen und zur United Fruit Company hingewiesen sowie auf die frühere Funktion von Vizepräsident Cheney als Vorstandschef von Halliburton.

 

Diese Zeitungen wurden Männern und Frauen vorgelesen, die keine Schule besucht hatten. Alle schienen sich für dieses Thema zu interessieren. Ich befand mich im Regenwald am Amazonas bei Menschen, die weder lesen noch schreiben konnten, aber dennoch unbequeme Fragen stellten, die ins Herz des globalen Imperiums zielten.
Als ich aus Shell hinausfuhr, vorbei am Staudamm und hinauf in die Anden, dachte ich nach über den Unterschied zwischen dem, was ich während dieses Besuchs in Ecuador gesehen und gehört hatte, und dem, was ich aus den Vereinigten Staaten kannte. Anscheinend konnten die Stämme des Amazonas uns vieles lehren. Trotz all unserer Bildung und der vielen Zeit, die wir mit Zeitschriften und Nachrichten im Fernsehen verbrachten, fehlte uns eine gewisse Bewußtheit, die sie irgendwie erlangt zu haben schienen. In diesem Zusammenhang mußte ich an die »Prophezeiung des Kondors und des Adlers« denken, die mir in Lateinamerika häufig zu Ohren gekommen war, und an ähnliche Prophezeiungen, von denen ich in anderen Teilen der Welt gehört hatte.


Fast alle Kulturen, die ich kenne, gehen davon aus, daß wir Ende des 20. Jahrhunderts in ein bedeutendes Wendezeitalter eingetreten sind. In Klöstern im Himalaja, an rituellen Orten in Indonesien, in den Reservaten der nordamerikanischen Ureinwohner, von den Tiefen des Amazonas bis zu den Bergen der Anden und zu den alten Städten der Maya in Mittelamerika – überall hörte ich, daß wir in einer besonderen historischen Zeitleben und daß wir geboren wurden, weil wir eine Mission zu erfüllen haben. Die Bezeichnungen und der Inhalt der Prophezeiungen weichen ein wenig voneinander ab. Sie sprechen von einem Neuen Zeitalter, dem Dritten Jahrtausend, dem Wassermann-Zeitalter und dem Anfang der Fünften Sonne oder vom Ende der alten Zeitrech-
nung und dem Beginn einer neuen. Trotz der unterschiedlichen Terminologie jedoch haben sie vieles gemeinsam, und »Die Prophezeiung des Kondors und des Adlers« ist typisch für sie. Ihr zufolge spaltete sich die menschliche Gemeinschaft am Anbeginn der Geschichte und schlug zwei unterschiedliche Wege ein: jenen des Kondors (der das Herz, die Intuition und das Mystische verkörpert) und jenen des Adlers (der den Verstand, das Rationale und das Materielle repräsentiert). In den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts, so die Überlieferung, liefen beide Wege aufeinander zu, und der Adler drohte den Kondor zu überwältigen. Aber fünfhundert Jahre später, Ende des 20. Jahrhunderts, sollte eine neue Zeit beginnen, in der sich dem Kondor und dem Adler die Möglichkeit bietet, sich zu vereinigen, gemeinsam am Himmel zu fliegen und denselben Weg einzuschlagen. Wenn der Kondor und der Adler diese Chance nutzen, werden sie herausragende, einzigartige Nachkommen hervorbringen. »Die Prophezeiung des Kondors und des Adlers« läßt sich auf vielfältige Weise deuten – meist wird sie dahingehend interpretiert, daß sich das überlieferte Wissen der indigenen Völker mit moderner Wissenschaft und Technik verbinden werde, daß ein Ausgleich zwischen Yin und Yang und ein Brückenschlag zwischen Nord und Süd erfolgen werde. Eindrucksvoller aber noch ist die Botschaft, die sie uns hinsichtlich unseres Bewußtseins übermittelt: Demzufolge können uns heute die vielen unterschiedlichen Sichtweisen von uns selbst und der Welt zum Vorteil gereichen und wir können sie als Sprungbrett auf eine höhere Ebene des Bewußtseins nutzen. Wir haben die Chance, geistig zu erwachen und uns als Menschen zu einer bewußteren Art zu entwickeln.

 

Die Kondor-Völker des Amazonas zeigen es uns eindringlich: Wenn wir uns die Fragenach dem Wesen des Menschseins in diesem neuen Jahrtausend stellen wollen und ernsthaft bereit sind, unsere Ziele für die nächsten Jahrzehnte zu überprüfen, dann müssen wir die Augen öffnen und die Konsequenzen unserer Handlungen – der Handlungen des Adlers – in Ländern wie dem Irak und Ecuador zur Kenntnis nehmen. Wir müssen uns selbst wachrütteln. Wir, die wir im mächtigsten Land leben, das die Geschichte gesehen hat, müssen aufhören, uns so ausgiebig um Dinge wie Seifenopern, Fußballspiele, Quartalsberichte oder die täglichen Schwankungen des Dow Jones zu kümmern, und uns stattdessen damit beschäftigen, wer wir sind und welche Zukunft wir uns für unsere Kinder wünschen. Wenn wir uns diesen wichtigen Fragen nicht stellen, steuern wir die Welt in die Katastrophe.