35 Die Schutzschicht durchdringen

Kurz nach meiner Rückkehr aus Ecuador im Jahr 2003 marschierten die USA ein zweites Mal in 14 Jahren in den Irak ein. Die EHM waren gescheitert, und auch die Schakale hatten versagt. Also wurden junge Männer und Frauen ausgeschickt, um zu töten und im Wüstensand zu sterben. Eine wichtige Frage, die diese Invasion aufwarf, die sich aber wohl nur die wenigsten Amerikaner stellten, war: Was bedeutete dies für das Haus Saud?


Wenn die Amerikaner den Irak übernahmen, der nach manchen Schätzungen sogar über größere Ölvorkommen verfügt als Saudi-Arabien, dann war es nicht mehr unbedingt notwendig, daß sie sich an den Pakt hielten, den sie in den siebziger Jahren mit der saudischen Königsfamilie geschlossen hatten, jenes Abkommen, das aus dem Saudi-Arabischen Geldwäscheprojekt hervorgegangen war.


Durch das Ende von Saddams Regime veränderte sich die Formel ähnlich wie durch die Beseitigung Noriegas in Panama. Nachdem wir in Panama unsere Marionetten installiert hatten, erlangten wir die Kontrolle über den Kanal, unabhängig davon, was in dem zwischen Torrijos und Carter ausgehandelten Vertrag festgelegt war. Und wenn wir im Irak die Macht hatten, konnten wir dann die OPEC aufbrechen? Würde die saudische Königsfamilie dann in der internationalen Ölpolitik stark an Einfluß verlieren? Einige Experten stellten bereits die Frage, weshalb Bush eigentlich den Irak angegriffen hatte, anstatt alle Kräfte auf die Vernichtung der Al-Qaida-Gruppen in Afghanistan zu konzentrieren.

 

War es möglich, daß diese Regierung – diese Ölfamilie – der Sicherung von Ölvorkommen und der Rechtfertigung neuer lukrativer Bauaufträge größere Bedeutung beimaß als der Bekämpfung der Terroristen? Doch es gab noch eine andere Möglichkeit: Die OPEC konnte den Versuch unternehmen, zu alter Stärke zurückzufinden. Falls die USA die Kontrolle über den Irak erlangten, hatten die übrigen Ölstaaten wenig zu verlieren, wenn sie die Erdölpreise anhoben und/oder die Förderung drosselten. Diese Möglichkeit war verknüpft mit einem alternativen Szenario, dessen Implikationen zunächst wohl nur für wenige Leute außerhalb der internationalen Hochfinanz erkennbar waren, das jedoch die geopolitischen Kräfteverhältnisse nachhaltig verschieben und schließlich zum Untergang jenes Systems führen konnte, das die Korporatokratie so beharrlich aufgebaut hatte. Es konnte in der Tat die Selbstzerstörung des ersten wirklich globalen Imperiums der Weltgeschichte einleiten.


Die globale Vorherrschaft der Vereinigten Staaten beruht im Wesentlichen darauf, daß der US-Dollar die Standard- und Reservewährung der Welt ist und daß die United States Mint das Recht besitzt, diese Dollars zu drucken. Und so vergeben wir Kredite an Länder wie Ecuador, wohl wissend, daß diese Staaten sie niemals werden zurückzahlen können; wir wollen auch gar nicht, daß sie ihre Schulden begleichen, denn diese Nichtzahlung gibt uns die Mittel an die Hand, die wir brauchen. Unter normalen Umständen würden wir dadurch unser Kapital ernsthaft gefährden, denn kein Gläubiger kann es sich dauerhaft leisten, allzu viele uneinbringliche Kredite in seinen Büchern zu haben. Aber wir leben nicht unter normalen Umständen. Die Vereinigten Staaten drucken Geld, das nicht durch Gold gedeckt ist. Es wird im Wesentlichen durch nichts anderes gedeckt als durch das allgemeine weltweite Vertrauen in unsere Wirtschaft und in unsere Fähigkeit, die Kräfte und die Ressourcen des Imperiums, das wir geschaffen haben, richtig zu nutzen und einzusetzen.


Daß wir Geld drucken können, verleiht uns enorme Macht. Es bedeutet unter anderem, daß wir weiterhin Darlehen vergeben können, die aller Wahrscheinlichkeit nach nie zurückgezahlt werden – und daß wir gigantische Schuldenberge aufhäufen können. Anfang 2003 beliefen sich die Schulden der Vereinigten Staaten auf atemberaubende sechs Billionen Dollar, und sie sollten bis Ende des Jahres auf sieben Billionen steigen – was ungefähr 24.000 Dollar für jeden US-Bürger entspricht. Hauptgläubiger der USA sind die asiatischen Länder, vor allem Japan und China, die in großem Umfang US-Staatsanleihen und -Wertpapiere kaufen (insbesondere Schuldverschreibungen), und zwar mit Devisen, die sie durch den Export von Konsumgütern – in erster Linie Elektronikartikel, Computer, Autos, Haushaltsgeräte und Textilien – in die USA und andere Teile der Welt erwirtschaftet haben. Solange die Welt den US-Dollar als Standard- und Reservewährung akzeptiert, stellt diese exzessive Verschuldung keine ernste Gefahr für die Korporatokratie dar. Sollte irgendwann jedoch eine andere Währung den Dollar ersetzen oder sollten sich einige von Amerikas Gläubigern (Japan oder China) entschließen, einen Teil dieser Wertpapiere zu verkaufen, um ihr Geld zurückzuholen, würde sich die Situation dramatisch verändern.

 

Die Vereinigten Staaten würden sich schlagartig in einer höchst prekären Lage wiederfinden. Daß eine solche konkurrierende Währung entstehen könnte, ist keineswegs ausgeschlossen: Im Januar 2002 trat der Euro auf die internationale Bühne und gewinnt zunehmend an Prestige und wirtschaftlicher Bedeutung. Der Euro bietet den OPEC-Staaten eine unerwartet günstige Gelegenheit, wenn sie Vergeltung üben wollen für die Irak-Invasion oder sich aus einem anderen Grund dazu entschließen, die Vereinigten Staaten unter Druck zu setzen. Würde die OPEC beispielsweise ihre Ölexporte in Euro statt in Dollar abrechnen, dann würde das US-Imperium in seinen Grundfesten erschüttert werden. Sollten darüber hinaus einer oder zwei unserer Hauptgläubiger verlangen, daß wir unsere Schulden in Euro zurückzahlen, dann würde es zu enormen Turbulenzen kommen. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich am Morgen des 18. April 2003, des Karfreitags, den kurzen Weg von meinem Wohnhaus zu der umgebauten Garage zurücklegte, die mir jetzt als Büro dient, mich an den Schreibtisch setzte, den Computer einschaltete und wie üblich als Erstes die Internetseite der New York Times aufrief. Die Schlagzeile sprang mir entgegen und holte mich im Nu von meinen Gedanken über die neuen Realitäten der internationalen Finanzmärkte, die Staatsverschuldung und den Euro wieder zurück zu meinem alten Beruf: »USA erteilen Bechtel Großauftrag beim Wiederaufbau im Irak.«


In dem Artikel hieß es: »Die Bush-Administration hat heute im Rahmen eines gewaltigen Wiederaufbauprogramms für den Irak den ersten großen Auftrag an die Bechtel Group aus San Francisco vergeben.« Weiter schrieben die Autoren: »Die Iraker werden beim Wiederaufbau ihres Landes mit der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds zusammenarbeiten, zwei Institutionen, in denen die Vereinigten Staaten über großen Einfluß verfügen.« Über großen Einfluß! Das ist, gelinde gesagt, eine Untertreibung. Ich klickte mich weiter zu einem anderen Artikel in der New York Times: »Unternehmen verfügt über Kontakte in Washington und im Irak.« Ich übersprang die ersten Absätze, in denen die meisten Informationen des vorhergehenden Artikels wiederholt wurden, und las dann: Bechtel verfügt über langjährige Verbindungen zum politischen Establishment … In seiner Leitung sitzt George P. Shultz, der unter Präsident Ronald Reagan Außenminister war. Bevor er in die Regierung Reagan eintrat, war Mr. Shultz, der daneben auch als Chefberater für Bechtel arbeitet, Präsident der Firma und arbeitete mit Caspar W. Weinberger zusammen, der vor seiner Ernennung zum Verteidigungsminister eine leitende Funktion in dem in San Francisco ansässigen Unternehmen ausübte. Dieses Jahr ernannte Präsident Bush den Vorstandschef des Unternehmens, Riley T. Bechtel, zum Mitglied des Export Council des Präsidenten.

 

In diesen Artikeln wurde die moderne Geschichte, das Streben nach globaler Vorherrschaft, kurz und klar zusammengefaßt. Was sich jetzt im Irak abspielte und in den Morgenzeitungen beschrieben wurde, war das Ergebnis jener Tätigkeit, in der Claudine mich vor 35 Jahren unterwiesen hatte, und der Arbeit vieler anderer Männer und Frauen, die ähnlich wie ich damals um jeden Preis Karriere machen wollten. Es markierte den gegenwärtigen Entwicklungsstand jenes Prozesses, durch den die Korporatokratie die ganze Menschheit unter ihren Einfluß bringen will.


Diese Zeitungsartikel handelten von der Irak-Invasion des Jahres 2003 und von den Kontrakten, die nun abgeschlossen wurden, um einerseits in diesem Land die Schäden zu beheben, die unser Militär angerichtet hatte, und andererseits einen neuen, am westlichen Vorbild ausgerichteten Irak aufzubauen. Dennoch verwiesen die Nachrichten vom 18. April 2003 auch zurück auf die Anfänge in den siebziger Jahren und in die Zeit des Saudi-Arabischen Geldwäscheprojekts. Dieses Projekt, das wir mit SAMA abkürzten, und die Verträge, die sich daraus ergaben, hatten neue und markante Präzedenzfälle geschaffen, die es den amerikanischen Ingenieurfirmen, Baukonzernen und Ölgesellschaften ermöglichten – und sie geradezu ermächtigten –, die Entwicklung dieses Wüstenkönigreichs maßgeblich zu gestalten. Zugleich hatte SAMA neue Regeln festgelegt für den weltweiten Umgang mit Erdöl, die geopolitischen Rahmenbedingungen neu definiert und mit der saudischen Königsfamilie ein Bündnis geschmiedet, das zum einen deren Herrschaft zementierte und zum anderen sicherstellte, daß sie nach unseren Regeln spielte.


Als ich diese Artikel las, mußte ich darüber nachdenken, wie viele Menschen außer mir wohl wußten, daß Saddam noch im Amt wäre, wenn er das gleiche Spiel gespielt hätte wie die Saudis. Er hätte seine Raketen und Chemiefabriken bekommen; wir hätten sie für ihn gebaut, und Vertreter unserer Firmen wären heute damit beschäftigt, sie zu warten und auf den neuesten Stand zu bringen. Es hätte ein fabelhaftes Geschäft für alle Beteiligten werden können – genau wie der Deal mit den Saudis. Bislang hatten die Mainstream-Medien noch nicht über diese Zusammenhänge berichtet. Aber hier wurde der Anfang gemacht. Gewiß, es war nur eine vage Ahnung, nicht viel mehr als eine leise Andeutung, aber anscheinend sickerten die wahren Zusammenhänge allmählich durch. Um festzustellen, ob die New York Times hiermit allein auf weiter Flur stand, ging ich auf die Internetseite von CNN und las: »Bechtel gewinnt Ausschreibung für Irak-Auftrag.« Die CNN-Geschichte deckte sich weitgehend mit jener in der New York Times, es wurde aber noch etwas hinzugefügt: Als mögliche Interessenten für diesen Auftrag wurden auch mehrere andere Unternehmen gehandelt, entweder als Mitbieter oder als Teile eines Konsortiums, wie etwa die Abteilung Kellogg Brown & Root (KBR) von Halliburton – wo Vizepräsident Cheney früher als Vorstandschef tätig war … Halliburton hat jedoch bereits einen Auftrag zur Wiederinstandsetzung der Ölinfrastruktur des Irak erhalten, dessen Volumen sich auf bis zu 7 Milliarden Dollar beläuft und der bis zu zwei Jahre Zeit in Anspruch nehmen könnte.


Daß die Entwicklung auf die Schaffung eines globalen Imperiums hinauslief, schien allmählich ins allgemeine Bewußtsein zu dringen. Es wurden keine Einzelheiten dargelegt, und es war auch nicht die Rede davon, daß dieser Prozeß mit Verschuldung, Täuschung, Versklavung und Ausbeutung verbunden war und mit einer historisch beispiellosen Vereinnahmung der Herzen und Seelen der Menschen sowie ihrer natürlichen Ressourcen. Nichts in diesen Artikeln ließ den Schluß zu, daß die Ereignisse im Irak im Jahr 2003 die Fortsetzung einer beschämenden Entwicklung waren. Es wurde auch nicht erwähnt, daß diese Entwicklung, die so alt ist wie die Idee des Weltreiches, heute neue und erschreckende Dimensionen angenommen hat, zum einen aufgrund ihrer Tragweite im Zeitalter der Globalisierung, zum anderen weil sie so subtil umgesetzt wird. Doch trotz aller Unzulänglichkeiten in der Darstellung und der Bewertung schien diese Thematik nun langsam, fast widerstrebend, ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu werden.


Daß sich etwas langsam und gegen Widerstände allmählich durchsetzt, kam mir bekannt vor. Ich fühlte mich an meine eigene Geschichte erinnert und daran, daß ich viele Jahre lang immer wieder davor zurückgeschreckt war, sie zu erzählen. Ich wußte seit langem, daß ich ein Bekenntnis ablegen mußte, aber ich hatte es immer wieder hinausgeschoben. Im Rückblick muß ich sagen, daß die Zweifel, die Schuldgefühle mich von Anfang an begleitet haben. Sie hatten sich bereits in Claudines Wohnung eingestellt, noch bevor ich mich dazu bereiterklärt hatte, zum ersten Mal nach Indonesien zu reisen, und sie hatten mich in all den Jahren nahezu unablässig verfolgt.


Ich wußte aber auch, daß ich niemals ausgestiegen wäre, wenn die Zweifel, die seeli-´schen Schmerzen und die Schuldgefühle nicht ständig an mir genagt hätten. Wie so viele andere hätte ich einfach in der alten Routine weitergemacht. Ich hätte nicht eines Tages auf den Virgin Islands am Strand gestanden und mich entschlossen,  AIN zu verlassen. Dennoch zauderte ich weiter, so wie wir auch als Kultur vieles vor uns herschieben. Diese Schlagzeilen deuteten an, daß es ein Bündnis gab zwischen Großkonzernen, internationalen Banken und Regierungen, doch ähnlich wie mein Resümee bei MAIN kratzten diese Berichte nur an der Oberfläche. Die wirkliche Geschichte hatte nur wenig damit zu tun, daß die großen Ingenieur- und Baufirmen wieder einmal Milliarden Dollar erhalten sollten, um ein Land nach unseren Vorstellungen zu formen – mit einer Bevölkerung, die wahrscheinlich nicht den Wunsch verspürte, diesen Vorstellungen zu entsprechen – oder daß eine kleine, elitäre Gruppe von Männern ein jahrhundertealtes Ritual praktizierte und die Privilegien mißbrauchte, die ihnen ihre hohen Regierungsämter verschafften.


Diese Vorstellung ist jedoch zu simpel. Sie impliziert, daß wir lediglich diese Männer hinauswerfen müßten, wenn wir die Fehler des Systems beheben wollten. Sie fördert Verschwörungstheorien und liefert uns eine bequeme Entschuldigung dafür, einfach den Fernseher einzuschalten und uns mit dieser naiven, gutgläubigen Sichtweise der Geschichte zufrieden zu geben, die besagt: »Sie« werden es schon richten; das Staatsschiff ist seetüchtig und wird wieder auf Kurs gebracht werden. Wir müssen nur auf die nächste Wahl warten, aber am Ende wird sich alles zum Guten wenden. Die wahre Geschichte des modernen Imperiums – die Geschichte der Korporatokratie,
die verzweifelte Menschen ausbeutet und sich auf brutalste, selbstsüchtigste und auch selbstzerstörerischste Weise aller Ressourcen der Erde bemächtigt – hat wenig zu tun mit dem, was an diesem Morgen in den Zeitungen geschrieben wurde, aber sehr viel mit uns selbst. Das erklärt auch, weshalb es so schwer fällt, uns mit der wahren Geschichte auseinanderzusetzen. Wir glauben lieber an den Mythos, daß die gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit im Laufe von Jahrtausenden ein ideales Wirtschaftssystem hervorgebracht habe, anstatt uns der Tatsache zu stellen, daß wir einem falschen Konzept aufgesessen sind und dieses gleichsam als Evangelium verinnerlicht haben. Wir haben uns eingeredet, wirtschaftliches Wachstum diene stets dem Wohle der Menschheit und Wachstum bringe umso größeren Nutzen, je stärker es ausfalle. Und wir haben uns gegenseitig in der Überzeugung bestärkt, daß die Schlußfolgerung aus diesem Konzept weiterhin gültig und auch moralisch vertretbar ist: daß Menschen, die sich besonders darin hervortun, das Feuer des wirtschaftlichen Wachstums zu schüren, auch in der Hierarchie aufsteigen und reich belohnt werden sollten, während jene, die an den Rändern dieses Systems geboren wurden, ausgebeutet werden dürfen.

 

Dieses Konzept und die daraus abgeleiteten Konsequenzen werden zur Rechtfertigung jeglicher Art von Piraterie herangezogen – es werden Freibriefe ausgestellt für die Vergewaltigung, Ausplünderung und Ermordung unschuldiger Menschen im Iran, in Panama, Kolumbien, im Irak und anderswo. Economic Hit Men, Schakale und Soldaten werden eingesetzt werden, so lange man nachweisen kann, daß durch ihre Aktivitäten wirtschaftliches Wachstum erzeugt oder gefördert wird – und Wachstum ist fast immer Folge ihrer Machenschaften. Wenn man eine Stadt bombardiert und anschließend wieder aufbaut, läßt sich mittels der Ökonometrie, der Statistik und anderer »Wissenschaften« mühelos ein kräftiger Anstieg der Wirtschaftsleistung darstellen. In Wahrheit geht es darum, daß wir mit einer Lüge leben. Wie mein MAIN-Resümee zeigte, haben wir uns eine schützende Hülle zugelegt, um die Krebsgeschwüre unter der Oberfläche zu verbergen. Diese Geschwüre werden durch die Röntgenstrahlen unserer Statistiken sichtbar gemacht, welche die beunruhigende Tatsache enthüllen, daß das
mächtigste und reichste Imperium der Weltgeschichte gekennzeichnet ist durch haarsträubend hohe Raten an Selbstmorden, Drogenkonsum, Scheidungen, Kindesmißbrauch, Vergewaltigung und Morden und daß diese Leiden und Gebrechen wie ein bösartiger Tumor von Jahr zu Jahr weitere Metastasen bilden. In unserem Innersten empfinden wir alle den Schmerz. Wir rufen nach Veränderung. Doch wir pressen uns die Hand vor den Mund, unterdrücken unsere Schreie und werden deshalb nicht gehört. Es wäre schön, wenn wir dies alles einfach der Koporatokratie zur Last legen könnten. Das Imperium beruht auf der Effizienz der großen Banken, der Konzerne und Regierungen – der Korporatokratie –, aber das ist keine Verschwörung. Diese Korporatokratie sind wir selbst – wir ermöglichen ihr Funktionieren –, weshalb es den meisten von uns so schwer fällt, aufzustehen und sich gegen sie zu wenden. Wir suchen lieber nach ominösen Verschwörern hinter den Kulissen, weil die meisten von uns für diese Banken, Konzerne oder Regierungsbehörden arbeiten oder weil wir in irgendeiner Weise abhängig sind von ihren Produkten und Dienstleistungen. Wir wollen nicht die Hand des Herrn beißen, der uns füttert.


Über diese Zusammenhänge dachte ich nach, während ich die Schlagzeilen auf dem Monitor meines Computers betrachtete. Daraus ergab sich eine Reihe von Fragen. Wie können wir uns gegen ein System erheben, das uns ein Haus, ein Auto, Nahrung und Kleidung, Strom und Gesundheitsversorgung zur Verfügung stellt, obwohl wir wissen, daß dieses System auch verantwortlich ist für eine Welt, in der jeden Tag vierundzwanzigtausend Menschen verhungern und Millionen uns Amerikaner hassen oder zumindest die Politik verabscheuen, die von jenen Volksvertretern gemacht wird, die wir gewählt haben? Wie sollen wir den Mut aufbringen, aus der Reihe zu tanzen und Konzepte in Frage zu stellen, die wir selbst und unsere Nachbarn stets wie das Evangelium behandelt haben, auch wenn wir den Verdacht haben, daß dieses System sich letztlich selbst zerstören wird? Ich stand langsam auf und ging zum Haus zurück, um mir eine weitere Tasse Kaffee einzugießen.


Ich machte einen kleinen Umweg und holte mir die Palm Beach Post, die im Briefkasten neben unserer Zufahrt steckte. Sie brachte denselben Artikel über Bechtel und den Irak, abgedruckt mit Genehmigung der New York Times. Aber jetzt bemerkte ich das Datum auf der Titelseite: 18. April. Das ist ein berühmtes Datum, zumindest in Neuengland, das mir meine geschichtsbewußten Eltern sowie ein Gedicht von Longfellow nahe gebracht hatten:


Lauscht, meine Kinder, damit ihr hören könnt
Den mitternächtlichen Reiter Paul Revere
Am achtzehnten April des Jahres fünfundsiebzig;
Kaum ein Mensch noch weilt unter den Lebenden,
Der sich jenes berühmten Tages und Jahres erinnert.

 

Heuer fiel der Karfreitag auf den Jahrestag des Ritts von Paul Revere. Als ich dieses Datum auf dem Titelblatt der Post sah, dachte ich an jenen Silberschmied aus der Kolonialzeit, der auf seinem Pferd durch die dunklen Straßen Neuenglands preschte, wild seinen Hut schwenkte und schrie: »Die Briten kommen!« Revere hatte sein Leben riskiert, um diese Nachricht zu überbringen, und die Amerikaner reagierten entschlossen. Sie boten dem Imperium die Stirn – dem britischen Imperium. Ich überlegte, was sie wohl dazu bewogen haben mochte. Weshalb erhoben sich diese amerikanischen Siedler gegen die Kolonialmacht? Viele Anführer waren durchaus wohlhabend. Was hatte sie dazu getrieben, ihre wirtschaftliche Existenz aufs Spiel zu setzen, die Hand zu beißen, die sie fütterte, und ihr Leben zu riskieren? Jeder von ihnen hatte zweifellos seine persönlichen Gründe, aber dennoch muß es zugleich eine einigende Kraft gegeben haben, einen Funken, der all diese einzelnen Feuer in diesem historischen Augenblick entzündete.


Und dann erkannte ich, was den Anstoß gegeben haben muß: Worte. Die Verbreitung der Wahrheit über das britische Empire und sein egoistisches und destruktives System des Merkantilismus hatte diesen Funken entfacht. Die Enthüllung dieser Hintergründe durch die Worte von Männern wie Tom Paine und Thomas  Jefferson hatte die Fantasie ihrer Landsleute beflügelt, ihre Herzen und Seelen geöffnet. Die Kolonisten begannen Fragen zu stellen und entdeckten dabei eine neue Wirklichkeit. Sie stießen auf die Wahrheit, die unter der Patina lag, und begriffen, wie das britische Empire sie manipuliert, getäuscht und versklavt hatte. Sie erkannten, daß es ihren englischen Herren gelungen war, den meisten Menschen eine Lüge glaubhaft zu machen – daß ihr System das beste sei, das die Menschheit zu bieten habe, daß eine bessere Welt nur entstehen könne, wenn alle Ressourcen weiterhin durch den König von England verteilt würden, daß die imperiale Form der Wirtschaft und der Politik die wirksamste und humanste Möglichkeit sei, das Los der Mehrheit zu verbessern – obwohl in Wirklichkeit durch dieses System nur einige wenige auf Kosten der vielen reich wurden. Diese Lüge und die darauf aufbauende Ausplünderung hatten jahrzehntelang Bestand, bis eine Hand voll Philosophen, Geschäftsleute, Farmer, Fischer, Pioniere, Schriftsteller und Redner die Wahrheit zu verkünden begannen. Ich dachte über ihre Macht nach, als ich in mein Büro zurückkehrte und mich wieder an den Computer setzte.


Ich loggte mich aus der Internetseite von CNN aus und rief die Datei auf, an der ich am vorhergehenden Abend gearbeitet hatte. Ich las den letzten Absatz, den ich geschrieben hatte: Diese Geschichte muß einfach erzählt werden. Wir leben in einer Zeit fürchterlicher Krisen – aber auch gewaltiger Chancen. Die Geschichte dieses Economic Hit Man erklärt zugleich, wie wir dahin gekommen sind, wo wir uns jetzt befinden, und weshalb wir uns gegenwärtig mit Krisen auseinandersetzen müssen, die uns unlösbar erscheinen. Diese Geschichte muß erzählt werden, weil wir nur dann, wenn wir die Fehler der Vergangenheit verstehen, in der Lage sein werden, die Chancen zu nutzen, die sich bieten … Nicht zuletzt aber muß diese Geschichte erzählt werden, weil heute zum ersten Mal ein Land die Fähigkeit, das Geld und die Macht besitzt, all dies zu ändern. Es ist das Land, in dem ich geboren wurde und dem ich als EHM diente: die Vereinigten Staaten von Amerika. Dieses Mal würde ich mich nicht abbringen lassen von meinem Vorhaben. Durch die Zufälle meines Lebens und die Entscheidungen, die ich dabei jeweils getroffen hatte, war ich an diesen Punkt geführt worden. Ich mußte weitermachen. Ich dachte abermals an diesen einsamen Reiter, der über die dunklen Straßen Neuenglands galoppierte und seine Warnrufe ausstieß. Der Silberschmied wußte, daß die Worte von Paine und Jefferson ihm vorausgeeilt waren, daß die Menschen diese Worte in ihren Häusern gelesen und darüber in den Schänken diskutiert hatten. PPaaiinnee hatte die Wahrheit über die Tyrannei des britischen Empire ausgesprochen. JJeeffffeerrssoonn hatte verkündet, daß unsere Nation den Prinzipien des Lebens, der Freiheit und des Strebens nach Glück verpflichtet sei. Und Revere, der durch die Nacht ritt, hatte begriffen, daß die Männer und Frauen in den Kolonien aus diesen Worten Kraft geschöpft hatten; sie würden sich erheben und für eine bessere Welt kämpfen.

 

Worte …
Ich entschloß mich, nun keine Zeit mehr zu verlieren, endlich das zu vollenden, was ich in all den Jahren schon so oft angefangen hatte: Mit mir selbst ins Reine zu kommen, mein Bekenntnis abzulegen – und dieses Buch zu schreiben.